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Bücher über die deutsche Ostpolitik: Blank, wie wir dastehen

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Von: Christian Thomas

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Wladimir Putin and Gerhard Schröder 2002 im Restaurant Alt Weimar.
Wladimir Putin and Gerhard Schröder 2002 im Restaurant Alt Weimar. © SNA/Imago

Eine kleine Ukraine-Bibliothek (25): Bücher über das Versagen der deutschen Ostpolitik gegenüber der Ukraine.

Nicht nur ein Jahrestag in diesen Tagen, obendrein ein Zehnjahrestag. Und was ist mit dem? Denn wenn man zurückschaut, dann war im Frühjahr 2013 die Annexion Kiews durch den Kreml beschlossene Sache. Der „Kampf um Kiew ist entbrannt“, hieß es in Moskau, doch weil der Westen es weder wahrnehmen, geschweige denn wahrhaben wollte, wurde die Ukraine weiterhin ignoriert. „Am Rande“ liegend, wie es ihr Name seit Ende des 12. Jahrhunderts sagt, wurde das Land so behandelt, als Marginalie auch Anfang 2013. Was geopolitisch im Konrad-Adenauer-Haus und im Willy-Brandt-Haus geringgeschätzt wurde, wurde geostrategisch zu einem GAU.

„Stillschweigend“, so die Journalistin Ute Schaeffer, wurde die Ukraine nicht etwa zu Europa gerechnet, sondern allein Russland zugeschlagen. Ihr Buch wurde 2015, da führte Putin bereits an mehreren Fronten in der Ukraine Krieg, vom Wagenbach-Verlag veröffentlicht. Ebenso erschien im selben Jahr eine Lizenzausgabe in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung.

Die Pointe dieser Anekdote besteht darin, dass Schaeffers „Reportagen aus einem Land im Aufbruch“, adressiert an eine bildungsbereite Nation, offenbar zu keinerlei Resonanz im Deutschen Bundestag und seinen Ausschüssen führte. Dabei handelte es sich um ein Buch, das mit seinen Belegen für den „Kampf um Kiew“ eine Kehrtwende zur Diskussion stellte. Ebenso wie Karl Schlögel, der 2015 mit seinem Buch „Entscheidung in Kiew“ so minutiös wie dramatisch eine Zeitenwende beschrieb. Blickt man zurück, schaute Schlögel voraus, denn bei der Ukraine bekommen wir es mit „einem Ernstfall zu tun, für den wir, was die dafür notwendigen Denkmittel und Verhaltensformen angeht, denkbar schlecht gerüstet sind, um von den praktischen Formen der Friedenssicherung, die auch militärische Wehrhaftigkeit einschließt, gar nicht zu reden“.

Schlögels Einschätzung war von beklemmender Klarsicht und beschämender Weitsicht. Denn die zwingend sich ergebende Verantwortung Deutschlands gegenüber Russland wegen des von 1941 bis 1945 gegen die Sowjetunion geführten Vernichtungskrieges verstellte den Blick auf die Ukraine. Exemplarisch die Rede des Bundeskanzlers. Unmittelbar nach der von ihm proklamierten Zeitenwende war die Ansprache an die Nation, wie uns die Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks, Sabine Adler, in Erinnerung ruft, bestimmt von allenfalls „groben Kenntnissen“ über die Ukraine. Von Scholz übergangen die verheerende Okkupation durch Nazideutschland.

Unbestritten verdienstvolle Veteranen der Ostpolitik äußerten bereits 2014 Verständnis allein für Russland. Ob aus „alter Gewohnheit“, so Adler, oder aber wegen krasser Unkenntnisse wurde „der Raum zwischen Deutschland und Russland wieder einmal übergangen“. Eine deutsche Traditionslinie. Nicht nur mit „Herablassung“, mehr noch mit „Verachtung“ äußerte sich ein Erhard Eppler in den Wochen des Euro-Maidan über die Ukraine, als sei der „Maidan“ nicht ein Aufstand gegen eine horrende Korruption, eine hemmungslose Oligarchie und Betrug durch Politik und Justiz gewesen. Exponenten einer vormaligen Ostpolitik stellten nicht nur die staatliche Selbstständigkeit der Ukraine infrage, sondern reproduzierten russische Narrative.

Trotz der seit den 1970er Jahren vollkommen veränderten geopolitischen Bedingungen wurden mantraartig Maßstäbe für eine Ukraine-Politik übernommen. Als wären nicht die Errungenschaften der sozialliberalen Ostpolitik aus einer minutiösen Analyse hervorgegangen, ergingen sich die Veteranen in schulmeisterlichen Belehrungen und schurigelnden Zurechtweisungen. Mit einem Gedanken des alten Dialektikers Marx ließe sich sagen, dass die Gedanken nicht zur Wirklichkeit drängten, sondern die von Putin geschaffenen Realitäten längst über eine so ahistorisch wie hermetisch verfugte sozialdemokratische Gedankenwelt hinweggingen.

Warum zurückschauen? Etwa auf die Geburtstagsfeier, die Gerhard Schröder zum 60., noch war er im März 2004 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, in einem Petersburger Palais ausgerichtet wurde. Im Nachhinein war es die pompöse Inthronisierung eines „Oligarchen“ Putin, so der Moskau-Korrespondent der „Zeit“, Michael Thumann, noch vor Schröders Amtseinführung als Gaslobbyist. Nicht zu vergessen, dass bereits im Januar 2001 Schröder als Kanzler dem vormaligen Geheimdienstmann Putin in Moskaus Erlöserkathedrale besondere Weihen verlieh. Die SPD störte sich nicht daran, dass Schröder Kerzen mit Putin anzündete – und sich dabei von Putin „bekehren“ (Thumann) ließ.

Warum zurückschauen? Wo doch verantwortliche Ostpolitiker, besorgt um ihre Deutungshoheit über die „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland, energisch betonen, zurückzuschauen bringe nichts. Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen mehr als alle anderen Menschen müsste diese Haltung eigentlich empören, handelt es sich doch dabei um einen aus Adenauerdeutschland adoptierten Abwehrmechanismus. Schaut man genauer hin, dann waren Verdrängung und Erinnerungsunwille in der Nachkriegs- und Nachnazizeit Motive für sozialdemokratische Opposition gewesen. Sollte es sich bei dem Symptom „Ich kann mich nicht erinnern“ um ein in der SPD verbreitetes Syndrom handeln?

Zur Reihe:

ine kleine Ukraine-Bibliothek, im Juli 2022 mit dem Igor-Lied gestartet, nicht chronologisch angelegt, nicht systematisch zusammengestellt, gedacht als Angebot zur Orientierung. Davon ausgehend, dass sich Schauplätze,

ob fern oder fremd, durch Bücher von jedem Ort der Welt aus aufsuchen lassen.

Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen. Erstmals 2015. Aktualisierte Neuausgabe Hanser 2022. 382 S., 26 Euro.

Sabine Adler: Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft. Ch. Links 2022. 248 S., 20 Euro.

Ute Schaeffer: Reportagen aus einem Land im Aufbruch. Wagenbach 2015. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2015. 158 S., antiquarisch.

Michael Thumann: Revanche. Warum Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. C.H. Beck 2023. 288 S., 25 Euro.

Zuletzt ins Regal gestellt: Yevgenia Belorusets’ „Glückliche Fälle“ und „Anfang des Krieges“, die Nestorchronik, die Ausgabe „Widerstand“ der Zeitschrift „Osteuropa“ und Erzählungen Mychailo Kozjubynskys sowie Wladimir Korolenkos.

Als Nr. 26 wird Sofia Andruchowytschs Roman „Die Geschichte von Romana“ vorgestellt.

Über die persönliche Korrumpierung von Maßstäben hinaus analysieren Thumann und Adler eine allgemeine „Verirrung der Ostpolitik“ (Thumann), eine dem Primat von Wirtschaftsinteressen willfährige Politik, namentlich der Minister Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier, sekundiert von einer SPD-Intelligenz, darunter einem der Architekten der 70er-Jahre-Ostpolitik, Egon Bahr, der sich zu einem „Hauptbefürworter einer engen Kollaboration mit Putins Russland“ (Thumann) aufschwang.

Putin, und darauf verweist Adler, wurde während der Verhandlungen 2015, als er den Krieg in der Ostukraine nicht etwa aussetzte, nicht in die Schranken gewiesen, nicht von François Hollande, nicht von Angela Merkel, auch dann nicht, wenn er am Tisch tobte und seine Zerstörungsfantasien gegen die Ukraine unverhohlen ausstieß. Dennoch Appeasement gegenüber einem Autokraten, der in Tschetschenien und Georgien als Kriegsherr rücksichtslos und als Staatschef ruchlos vorgegangen war.

Was da ausbrach, war nicht okay, schon klar, wurde aber ordnungsgemäß kontextualisiert, etwa als Phantasma. Russlands Außenminister Lawrow legten deutsche Ostpolitiker telegen die mit Akkreditierungszulassungen wie mit Freundschaftsbändchen drapierten Handgelenke auf den Unterarm, als wäre der nicht der verlängerte Arm Putins. Was unter grotesker Verkennung der Realität und Verkehrung der Tatsachen als Provokation gegen Russland hingestellt wurde, war vonseiten der EU und der Bundesregierung eine nicht abreißende Politik der Zugeständnisse an Russland, begleitet von einer fortwährenden „Sprachlosigkeit“, wie Sabine Adler ausführt.

„Sprachlosigkeit“: Vielleicht ist dies das am meisten niederschmetternde Urteil in einem zehnjährigen Debakel, insbesondere für eine Linke, die sogar angesichts von Putins buchstäblich beweihräuchertem Imperialismus die Augen artig abwandte. Wir etwa nicht? 2018, da herrschte in der Ukraine bereits so lange Krieg wie der Erste Weltkrieg währte, wurden „ungeachtet aller Einwände aus Kiew und den osteuropäischen Hauptstädten, die Rohre auf dem Ostseeboden verlegt“ (Adler). Noch wenige Tage vor dem 24. Februar 2022 hielt der Kanzler an dem Dogma fest, bei Putins gegen den Westen in Stellung gebrachter Waffe, seinen Gaspipelines, handele es sich um ein rein wirtschaftliches Projekt.

„Im Erwartungshorizont“ einer Nachkriegsgeneration in Europa, einer postheroischen Gesellschaft, so Schlögel, kam die Ukraine als ein „Störfaktor“ vor. Anstelle von Klarheit herrschte ein von nicht wenigen Linken gepflegter Relativismus, so dass das „Insistieren auf Fakten“ als unterkomplex und „vulgärmaterialistisch“ galt. Angesichts einer „machtpolitisch gewordenen Postmoderne“, so Schlögel sarkastisch, müsse man weder etwas von Russland noch von der Ukraine „verstehen, wenn man nur etwas zu den Fehlern des Westens zu sagen“ wisse. Neben der „klebrigen Kumpelhaftigkeit“, wie sie im Fernsehen zwischen Putin und Politkern des Westens zu beobachten war, Politikern, die ihn wahrhaftig nicht beleidigten, sondern umwarben, „brauchte die russische Propaganda keine Agenten, sie bekam den Russenkitsch gratis geliefert“, namentlich von Gabriele Krone-Schmalz, Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht oder aus Alexander Gaulands AfD. Weil doktrinäre Linke ausgerechnet in dem radikalen Kapitalisten Putin einen Rächer aller Erniedrigten und Beleidigten wähnten, wurde er hofiert. Weil Rechtsextreme in Putin immer schon den Abräumer der Demokratie verehrten, wurde der Autokrat hofiert. Parteiübergreifend Parteinahmen nach einem vulgären Links-rechts-Raster.

Rückblickend liest sich Schlögels brillantes Buch als die „Chronik eines angekündigten Krieges“. Im September 2022 kam sie in einer aktualisierten Fassung heraus, in dem Monat, in dem Putin mit seiner Mobilmachung seine Eskalation vorantrieb und damit, so Michael Thumann, in einer „Zustimmungsdiktatur“ erstmals für Irritationen sorgte, für Verstörung, Verzweiflung, sogar Zweifel an einer Propaganda – die allerdings im Westen weiterhin verfängt, wenn ein seit Jahren sämtliche Verhandlungen hintertreibender Putin immer noch willige Vollstrecker seiner Lügen findet. Angefangen mit der Verbreitung von verqueren Darstellungen der Nato-Osterweiterung.

Rückblickend auf den 24. Februar 2022 erinnert man sich. Erinnert man sich, dass die Bundeswehr „komplett blank“ dastand. Erinnert man sich, dass allerdings auch unsere Kenntnisse über die Ukraine komplett blank waren. Es ließe sich an ein Überbauproblem denken – übrigens ohne die Ukraine dabei zu verklären, nämlich eine „defekte Demokratie“ (Kerstin S. Jobst), so beschrieben von Karl Schlögel, Sabine Adler, Michael Thumann, obendrein literarisch von A bis Z, in den Romanen von Jurij Andruchowytsch bis Serhij Zhadan.

Es war ebenfalls 2015, dass die Ukraine-Kennerin Ute Schaeffer, vertraut mit den gravierenden Defiziten und Deformationen einer Demokratie wie der Ukraine, einen Marshallplan empfahl, allerdings ausdrücklich einen „Marshallplan mit Konditionen“. Eine Herausforderung, damals bereits. Zudem eine alles andere als vulgärmaterialistische Vision, die, um Wirklichkeit zu werden, nicht nur die moralische Verurteilung des Verbrechers Putin zur Voraussetzung hat, sondern die militärische Niederlage Russlands.

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