Buchpreis-Shortlist: Das Loch, der Ball, die Drachen

Bei der Shortlist-Lesung zum Deutschen Buchpreis in Frankfurt.
Unter dem Ort, in dem Raphaela Edelbauer aufgewachsen ist, Hinterbrühl in Niederösterreich, befindet sich tatsächlich ein gewaltiges Loch. Norbert Scheuer bekam einmal im Supermarkt-Café in Kall/Eifel Aufzeichnungen eines Imkers aus dem Zweiten Weltkrieg zugeschoben, um die er sich – nach Art, wie man mit zugeschobenen Unterlagen eben umgeht – lange nicht kümmerte. Jackie Thomae wollte „Männer besser verstehen“ und Miku Sophie Kühmel über etwas schreiben, das möglichst weit weg von ihr selbst ist. In Tonio Schachinger klang die Schlagzeile für den österreichischen Nationalspieler Ivo Vastic nach, der bei der WM 1998 ein Tor schoss: „Ivo, jetzt bist du ein echter Österreicher.“ Saša Stanišic begriff durch seine demente Großmutter, wie Literatur – in diesem Fall Drachen – ein guter Kitt sein kann, um Lücken zu füllen. Die Wege zu einem Roman mögen unerfindlich sein, aber im Gespräch mit den sechs Nominierten auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 zeigten sich doch Anlässe, Ursachen, Motivationen, Funken, Keimzellen.
Die Frankfurter Shortlist-Lesung – zum zwölften Mal und zum zweiten Mal im Schauspielhaus, weil sich das Literaturhaus Jahr für Jahr zu klein war – war diesmal wieder komplett (das funktioniert nicht immer) und verlief lebhaft.
Raphaela Edelbauer und das große Loch. „Das flüssige Land“ (Klett-Cotta) handelt so offenkundig von österreichischer Nostalgie, Verdrängung und Bedrohlichkeit, dass sie, so Edelbauer, beim Zustandekommen der türkis-blauen Regierungskoalition gleich gedacht habe: Servus, das Buch werde sich verkaufen wie warme Semmeln. Edelbauer, 1990 in Wien geboren, betonte im Gespräch mit Maike Albath, dass ihre Heldin Ruth, eine erfolgreiche Physikerin, gerade als moderne Identifikationsfigur an den seltsamen Ort über dem großen Loch geraten sollte. Dass Ruth für die Vorgänge – beeinflusst von der Traumzeit-Vorstellung der Aborigines – so empfänglich sei: finster für uns Aufgeklärte.
Norbert Scheuer und die Bienen. Für „Winterbienen“ (Beck) habe er sehr sorgfältig recherchieren müssen, sagte Scheuer, 1951 in Prüm geboren, im Gespräch mit Christoph Schröder, zumal das Publikum ja gegenwärtig an diesen Tieren besonders interessiert sei. Selbstverständlich habe ihn das Wort „Volk“ in diesem Zusammenhang interessiert, das Pervertierte im Völkischen und die unaggressive Natürlichkeit eines Bienenvolkes. Gleichwohl sei ein Bienenvolk totalitär – stoße aus und töte, was nicht mehr tauglich und nützlich sei –, so dass das Publikum einen Eindruck vom Schillernden der Situation bekam.
Marie Sophie Kühmel und das ganz andere Thema. „Kintsugi“ (S. Fischer) ist der Debütroman der jüngsten Shortlist-Kandidatin. Kühmel, 1992 in Gotha geboren, hatte, wie Moderatorin Anna Engel zitierte, den Literaturbetrieb einmal als „Märchenschloss im Hochsicherheitstrakt“ bezeichnet. Wie sie mit „Kintsugi“ nun reüssiere, sei „sehr surreal und aufregend“, so die Autorin jetzt. Obwohl das inniglich oder schon nicht mehr ganz so inniglich verbundene Roman-Quartett absichtlich einen deutlichen Abstand zu ihrem Leben habe, sei es möglich gewesen, ihre eigenen Neurosen auf die vier zu verteilen.
Tonio Schachinger und der Fußball. „Nicht wie ihr“ (Kremayr & Scheriau) ist mehr als ein Fußballroman, zeigte sich im Gespräch mit Schröder, aber ein Fußballroman ist es weiß Gott auch. Er könne es nicht leiden, wenn man seine Hauptfigur Ivo oder dessen Frau Jessie für dumm halte, erklärte Schachinger, 1992 (aber schon im Januar) in Neu-Delhi geboren. Vielen Rezensenten, so Schachinger, habe Ivo gewiss einiges voraus.
Saša Stanišic und die Drachen. „Herkunft“ (Luchterhand) ist ein stark autobiografisches Mosaik. „Ich gebe zu, dass Sprache nicht alles kann, aber ich versuche es trotzdem“, sagte der 1978 in Višegrad geborene Schriftsteller zu Albath und machte es an einer fabelhaften Szene vor, in der er einen jugoslawischen Stafetten-Lauf der Jugend schildert: zwischen Nostalgie und Irrwitz, vorzüglicher Selbstbeobachtung und dem Bewusstsein, dass die Erinnerung fundamental trügen könnte. Er erzählte ferner von dem Beamten, der ihm damals die Möglichkeit eröffnet habe, in Deutschland zu bleiben. Menschgemachte Schicksalsentscheidungen, weil eben nicht immer alles so glasklar festgelegt ist.
Jackie Thomae und das Verständnis für Männer. „Brüder“ (Hanser Berlin) habe sie schreiben können, weil es eben nicht „Schwestern“ geheißen habe, sagte Thomae, 1972 in Halle geboren. Denn auch sie habe einen Abstand zu ihrer eigenen Biografie benötigt, um umso genauer sein zu können. Wenn sie über ihre Kindheit in der DDR spreche, verbinde sich das oft mit der Erwartung, dass sie sage: „Es war ganz grässlich.“ Sei es aber nicht gewesen, so Thomae im Gespräch mit Engel. Vor 2016, erklärte sie ferner, habe sie den Eindruck gehabt, der Rassismus in seinen diversen Erscheinungsformen schleiche sich allmählich aus.