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Bruno Latour: „Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown“ – Krabbelkurse für eine veränderte Welt

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Von: Harry Nutt

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Es ist nicht schlimm, ein Käfer zu sein. Es ist nur – anders. Und auch ein Käfer braucht Boden unter den Füßen, sozusagen.
Es ist nicht schlimm, ein Käfer zu sein. Es ist nur – anders. Und auch ein Käfer braucht Boden unter den Füßen, sozusagen. © Florian Kopp/epd

Der Soziologe Bruno Latour hat im Lockdown sein planetarisches Bewusstsein geschärft und beantwortet die Frage „Wo bin ich?“

Was wir heute besorgt unter dem Begriff Klimakrise diskutieren, ist seitens der Naturwissenschaften und der Philosophie seit jeher mit faszinierter Neugier bedacht worden: die Unwahrscheinlichkeit des Entstehens von Leben und die Bedingungen seines Erhalts zwischen zu heiß und zu kalt. Dabei hat sich zuletzt als Verdacht und Vorwurf herauskristallisiert, dass der Mensch in gnadenloser Hybris die Erde, von der und auf der er lebt, in schwere Bedrängnis gebracht hat.

In wissenschaftlichen Debatten wurde dieses Ärgernis zuletzt immer wieder unter dem Stichwort Anthropozän diskutiert, eben jenes verhängnisvolle Erdzeitalter, in dem der Mensch Einfluss auf den Planeten und das Universum ausübt.

Der französische Soziologe Bruno Latour sieht das völlig anders. Er lässt die einfache Unterscheidung von Mensch, Natur und den Dingen nicht gelten, vielmehr sei alles miteinander verwoben, vermutlich sogar weit über die bloße Metapher des Handwerks hinaus, das Insekten verrichten. Was wir uns angewöhnt haben, Umwelt zu nennen, ergibt für Latour keinen Sinn, da sich keine Grenze ziehen lasse zwischen einem Organismus und dem, was ihn umgibt. „Eigentlich umgibt uns nichts, alles wirkt darauf hin, dass wir atmen.“ Gerade das Atmen aber scheint während der Corona-Pandemie auf existenzielle wie symbolische Weise ins Stocken geraten zu sein, was Latour dazu veranlasst hat, seine zu einem stattlichen Werk angewachsene Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) im Zeichen des Lockdowns zu überprüfen oder auf beinahe literarische Weise ins Spiel zu bringen.

Seine Lektionen aus dem Lockdown bestehen einerseits aus Verweisen auf eine womöglich viel umfassendere Krise als die einer vorübergehenden Pandemie. Zugleich erkennt er in der radikalen Stillstellung der körperlichen Bewegung und der erzwungenen Verortung auf einen eng bemessenen Raum die Chancen auf eine mögliche Verwandlung.

Das Wort Verwandlung ist in diesem Fall wörtlich zu nehmen, Bruno Latour hat Kafkas berühmte Figur Gregor Samsa zum Kronzeugen und Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht. Konnte Kafkas Erzählung bisher als fataler anthropologischer Rücksturz auf ein hilfloses Krabbelwesen gelesen werden, das sich in seinen vielen Beinchen verheddert, das Zimmer nicht mehr verlassen kann und fürchten muss, von den eigenen Familienmitgliedern zertreten zu werden, so rät Bruno Latour nun dazu, sich Gregor als glücklichen Menschen vorzustellen. Der nämlich sei dabei, die Körpergrenzen neu zu definieren und mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Kafkas Gregor Samsa als moderner Held, der die ökologische Wende mit Haut und Haaren vollzieht.

Es ist gewiss nicht ganz abwegig, Latours Corona-Lektüre als Ausgeburt eines fantasiebegabten und belesenen Wissenschaftlers zu nehmen, der in den vergangenen zwei Jahren sehr viel Zeit gehabt hat. Tatsächlich aber stellt Latour, der weit über die Fachgrenzen hinaus als ein viel gelesener und häufig zitierter Wissenschaftler gilt, jenseits aller Parabelhaftigkeit die existenzielle Frage: „Wo bin ich?“

Das Buch

Bruno Latour: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown. A. d. Franz. v. H.-J. Russer / B. Schwibs. Edition Suhrkamp. 200 S., 16,50 Euro.

Die Pandemie hat den modernen Menschen, der es gewohnt war, von hier nach da zu fahren und permanent fortzuschreiten, aus der Verortung geworfen, und Bruno Latour bietet ihm nun ein paar Krabbelkurse an.

Ein weiteres Vorbild für seine Gedanken sind ihm die Termiten, die sich bevorzugt von organischen Materialien wie Holz, Humus und Gras ernähren. „Seltsamerweise ist es gerade das Gefühl, im Lockdown zu sein, das uns diese Freiheit verschafft, uns endlich ,frei‘ zu bewegen. Das Termite-Werden überzeugt uns davon, dass wir keine Minute überleben könnten, bauten wir nicht mit Speichel und Lehm einen winzigen kleinen Tunnel, der uns erlaubt, in völliger Sicherheit einige Millimeter weiter zu kriechen. Ohne Tunnel keine Bewegung.“

Über die individuellen Erfahrungen mit den erzwungenen Einschränkungen des Lockdowns hinaus hat die Gesellschaft insgesamt hinnehmen müssen, ruckartig angehalten zu werden. Auf dramatische Weise hat dies die Wirtschaft und unsere Arbeitsweisen betroffen. Latour schaut dabei gelassen auf die angehaltene Welt der Maschinen. „Als stiege die Ökonomie, die doch als das unbestreitbare Fundament der Existenz galt, nach oben wie ein Träger aus Holz, den man künstlich am Boden eines Gewässers festgehalten und nun plötzlich losgelassen hat. (...) Im Verlauf weniger Monate hörte die Ökonomie auf, der ,unüberschreitbare Horizont unserer Zeit‘ zu sein.“

Aus Latours Sätzen scheint die Schadenfreude eines jungen Anhängers der Extinction-Rebellion-Bewegung zu sprechen, der die kapitalistische Ökonomie insgesamt für verzichtbar hält. Latour versucht mit weitschweifiger Ernsthaftigkeit genau darüber nachzudenken und möchte deshalb eine wesentliche Erfahrung des Lockdowns nicht missen. „Wir alle entdecken wieder, dass jede Wirkmacht, auf die wir zählten, einen Hiatus hinzufügt, zu einem Umweg zwingt, eine Berechnung kompliziert, eine Debatte anstößt, einen Skrupel auslöst, eine Erfindung erforderlich macht, zu einer neuen Verteilung der Werte zwingt.“

Die Lektion des Lockdowns besteht für Latour in der mit Gregor Samsa gemachten Erfahrung, dass wir uns nicht länger als Gegenüber einer Landschaft erfahren können. Ein Territorium ist nicht mehr das, was wir besetzen, sondern das, was uns definiert.

Als kritischer Leser kann man zwar nicht umhin, den Autor hier in gefährlicher Nähe zu esoterischen Gedankengebäuden navigieren zu sehen, aus denen auch rechtsradikale Rückbesinnungen auf die Gemeinschaft und das Nationale ihre Energie beziehen. Latours Theorie jedoch scheint gegen ideologische Einvernahmen gefeit. Für seine Reflexionen zu einem planetarischen Bewusstsein gilt, dass nichts strikt lokal, national, übernational oder global sei. Das Virus hat diese Erkenntnis auf bemerkenswerte Weise verbreitet, „indem es daran erinnerte, dass man wunderbar von Mund zu Mund, von Hand zu Hand wandern und dabei in wenigen Monaten mehrmals um den Planeten reisen kann. Was für ein Globalisierer!“

Bruno Latour versucht in seinem schmalen Band das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass hinter der politischen Krise, die wir gerade durchleben, eine kosmologische Krise lauert. Wie der Mensch in der Wende zur Neuzeit des 16. und 17. Jahrhunderts sind wir nun aufgefordert, alles neu zu erfinden, sogar die Art und Weise, wie wir uns bewegen. Oder mit den Worten Bruno Latours: „Nicht mehr ins Unendliche fortschreiten, sondern lernen, angesichts des Endlichen zurückzuweichen, auszuscheren.“ Das sei eine andere Art, sich zu emanzipieren.

Unmittelbare Handlungsanweisungen sind aus den Lockdown-Lektionen des französischen Denkers, der seine Akteur-Netzwerk-Theorie vor bald 25 Jahren am Beispiel des Berliner Durchsteckschlüssels zu erörtern begann, nicht zu beziehen. Und doch eröffnet „Wo bin ich?“ mit seinem Blick auf die Dingwelt, die alles andere als unbelebt sei, gerade hinsichtlich der multiplen Krisenphänomene moderner Gesellschaften überraschende Erkenntnisse.

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