Biografie über Philip Roth: Philips Beschwerden

Blake Baileys Biografie des Schriftstellers Philip Roth ist ein Meisterwerk. Es schildert einen Mann mit starken Begierden und verrückten Attitüden.
Der bedeutendste Gelehrte der jüdischen Mystik verurteilte den Roman als schlimmer als die „Protokolle der Weisen von Zion“. Die „New York Times“ schickte einen Korrespondenten nach Weequahic, um sich nach dem Autor eines solchen Buches zu erkundigen. Fest stand: Als 1969 „Portnoys Beschwerden“ erschien, wurde Philip Roth schlagartig berühmt. Empörte Rabbinerpredigten hatte es zwar schon vorher gegeben. Doch diesmal war es anders. Aus der Sicht der Rabbiner wurden die bösartigen Verleumdungen der Juden, für die einst Joseph Goebbels’ Hetzereien standen und die zu den Krematorien geführt hatten, nun erneut unter die Leute gebracht. Und das ausgerechnet durch einen amerikanischen Juden. Roth wurde durch diese Verleumdungen verletzt und verbittert. Er erlebte eine ignorante Bourgeoisie, die für die Freiheiten seiner gutmütigen Satire wenig zugänglich war.
Die Reaktionen waren unmissverständlich: Eine wohlerzogene junge Frau aus der Vorstadt der 50er Jahre dürfe nicht als schamlose Diaphragmabesitzerin dargestellt werden, hieß es. Ein junger Mann aus gutem Hause sollte nicht mit einer rohen Leber masturbieren dürfen, die eigentlich zum Abendessen gedacht war.
Und am 30. März 1969, einen Monat nach dem Erscheinen von „Portnoy’s Complaint“, schickte Herman Roth seinem Sohn Philip eine scherzhafte Warnung, dass sein alter Rabbi Herman L. Kahan nach Philips „Telefonnummer oder Adresse“ frage. „Wahrscheinlich hat ihm die Bar-Mitzwa-Sache (in „Portnoy’s Complaint“) nicht gefallen, und jetzt will er dir die Hölle heiß machen“.
Der große jüdische Gelehrte Gershom Scholem, Präsident der Israelischen Akademie der Wissenschaften und einer der besten Kenner der jüdischen Kabbala, erklärte: „Dies ist das Buch, für das alle Antisemiten gebetet haben“, so schrieb er in der israelischen Tageszeitung „Haaretz“. „Den Preis werden wir zahlen, nicht der Autor, der sich in Obszönitäten ergeht... Ich wage zu sagen, dass wir uns alle bei der nächsten Wendung der Geschichte, die nicht lange auf sich warten lassen wird, auf der Anklagebank wiederfinden werden... Man wird uns dieses Buch vorhalten – und wie man es uns vorhalten wird!“ Er befürchtete, dass dieses Buch einen zweiten Holocaust auslösen könnte. „Wehe uns am Tag der Abrechnung!“
Die Rede ist von Philip Roth, geboren 1933 in Newark in New Jersey. Vor fünf Jahren ist er in New York gestorben. Er gilt als einer der größten Schriftsteller der letzten Jahrzehnte. Er gewann fast alle Preise für seine Bücher, die es gibt. 1998 den Pulitzerpreis und die National Medal of Arts. 2001 erhielt er die höchste Auszeichnung der American Academy of Arts and Letters, die Gold Medal. Roth gewann gleich zweimal den National Book Award, dann den National Book Critics Circle Award. Den PEN/Faulkner Award erhielt er dreimal sowie den PEN/Nabokov Award und den PEN/Saul Bellow Award. Nur ein Preis fehlte - und das schmerzte mehr als alles andere: Nie wurde ihm der Literaturnobelpreis verliehen.
2018 starb er ohne diese Ehre. Dabei hatte der virtuose Witz der Zuckerman-Romane („The Ghost Writer“, „Zuckerman Unbound“, „The Anatomy Lesson“, „The Prague Orgy“) ihn direkt auf die Spur nach Stockholm gesetzt. Sie waren Beweis dafür, dass hier einer der Besten am Werk war. Die BBC pries Roth als den „vermutlich besten Autor seit Tolstoi, der keinen Nobelpreis gewonnen hatte.“ Zuvor hatte der Schriftsteller Michael Bourne 2011 in einem „Offenen Brief an die Schwedische Akademie“ geschrieben: „Können wir bitte mit dem Unsinn aufhören und Philip Roth den Literaturnobelpreis verleihen, bevor er stirbt?“ Umsonst.
Das Leben dieses bemerkenswerten Schriftstellers hat Blake Bailey auf rund 1100 Seiten zusammengeschrieben. Es ist eine umfassende Biografie, man kann es nicht anders sagen. Zugleich ein erzählerisches Meisterwerk. Der Auftakt mit „Portnoys Beschwerden“ hätte nicht unterhaltsamer sein können. Aber auch die Darstellung all der Krisen, die Roth durchleben musste, ist Bailey grandios gelungen. Der Biograf schildert einen Mann mit komplexem Charakter und starken Begierden, einen ausgelassenen, oftmals verrückten Kerl, der zu Großzügigkeit gegenüber anderen neigt.
Zu den Katastrophen zählen erschütternde Krankheiten, Operationen, Qualen, Selbstmordversuche, Panikattacken, Depressionen und drogenbedingte psychische Verwirrungen, die Roth über weite Strecken seines Lebens begleiteten. Und dazwischen, zwischen den zermürbenden Episoden, ein Buch nach dem anderen (insgesamt 31), ein Preis nach dem anderen, eine Geliebte nach der anderen. Die Anziehungskraft attraktiver und, im Gegensatz zu ihm, treuer junger Frauen ließ bei Roth nie nach.
Bailey hat eine Art „autorisierte“ Lebensgeschichte geschrieben. „Sie müssen mich nicht reinwaschen“, hatte Roth zu ihm gesagt. „Machen Sie mich nur interessant.“ Es wurden Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen Bailey laut. In den USA wurde das Buch kurzerhand aus dem Handel genommen. Jetzt ist es in deutscher Übersetzung im Hanser-Verlag erschienen. Es hat sich gelohnt. Es ist ein wunderbar lesbares Stück Literaturgeschichte, aufgehängt an einer der schillerndsten Figuren der amerikanischen Literaturszene des 20. Jahrhunderts.
Das Buch:
Blake Bailey: Philip Roth. Biografie. A. d. Engl. v. D. van Gunsteren, T. Gunkel. Hanser 2023. 1088 S., 58 Euro.
Literarisch hatte die Figur des Biografen für Roth bereits in „Der Ghostwriter“ eine besondere Rolle gespielt. In dem Roman geht es darum, eine Biografie des Schriftstellers E.I. Lonoff zu schreiben, der von der Welt fast vergessen war. Seine Schülerin und Geliebte Amy Bellette war an Nathan Zuckerman mit dem Wunsch herangetreten, dieses Buch um jeden Preis zu verhindern, da der Biograf „alles und jeden beschmutzen und alles als Wahrheit ausgeben“ würde. Der Roman spiegelte Erfahrungen wider, die Roth mit einem früheren Biografen gemacht hatte. Sie waren offenbar nicht die besten.
Roth stammte aus einer jüdischen Einwanderer-Familie. Er war ein guter und kluger Schüler. Als Schriftsteller kam die Anerkennung schnell. Für „Letting Go“ und „When She Was Good“ gab es sogleich Lob, wenn auch eher konventionelles, nicht das, was Roth später erlebte. Seine ersten beiden Romane hatte er mit größter Anständigkeit geschrieben. Es gab nichts Heiligeres als die Literatur.
Nachdem er mit „Goodbye, Columbus“ einen Erzählungsband mit „Eli, der Fanatiker“, „Verteidiger des Glaubens“ und „Die Bekehrung der Juden“ veröffentlicht hatte, schritt Roth zur Tat und veröffentlichte „Portnoy’s Complaint“ („Portnoys Beschwerden“). Es kam zur Implosion. Zwar war der Schriftsteller schon vorher berüchtigt dafür, Juden zu beschämen. Doch dieses Buch sprengte alle Dimensionen. Roth selbst fragte sich noch viele Jahre später, warum nur er sich das angetan habe.
Roth musste sich zeitlebens mit dem Vorwurf des Antisemitismus auseinandersetzen. Lebenslang beharrte er darauf, er sei kein „jüdischer Schriftsteller“, sondern ein Schriftsteller, vor allem ein amerikanischer Schriftsteller – ganz abgesehen davon, dass seine Romane überwiegend von Juden handeln, von einer neu erfundenen Anne Frank („Der Ghostwriter“) bis zu Alvin Pepler, dem geschädigten ehemaligen Teilnehmer einer manipulierten Fernsehquizshow („Zuckerman Unbound“). Nicht anders verhält es sich in dem Roman „Das Komplott gegen Amerika“, in dem Juden von einem intriganten faschistischen Präsidenten heimtückisch in eine Falle gelockt werden, und in „Operation Shylock“, der in Israel spielt und in dem sich Zionisten und Antizionisten heftig bekriegen.
Doch Roth beharrt darauf: „Der Beiname ‚amerikanisch-jüdischer Schriftsteller‘ hat für mich keine Bedeutung. Wenn ich kein Amerikaner bin, bin ich nichts.“ Dennoch wird er als „sexbesessener Millionär“ und als ein von „Selbsthass zerfressener Jude“ diffamiert. Roth sagte einmal: „Norman Mailer konnte von der Missbilligung, die ich ständig errege, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, nur träumen.“ Den Amerikanern schrieb er eine „Ekstase der Scheinheiligkeit“ zu, was er in dem 2000 erschienenen Roman „Der menschliche Makel“ ausgiebig ausführte. Später beteiligte sich Roth sogar an der #MeToo-Debatte. „Ich nehme den Aufschrei der beleidigten und geschändeten Frauen ernst“, behauptete er da.
Die Ehen mit seinen beiden Frauen sind für Roth nicht zwingend Jahre des Glücks. Die erste Ehe scheitert krachend - und die Erfahrung wird selbstredend literarisch verarbeitet.
Bailey gelingt es, die Dialektik zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Dichtung und Wahrheit, wie Goethe es nannte, der Leserschaft nahe zu bringen. Neben all dem Skandalhaften und den für das Boulevard tauglichen Geschichten war Roth vor allem ein grandioser Erzähler, ein wahrer Meister. Mit enormer Disziplin schrieb er Tag für Tag, stets zur selben Zeit. Die Regelhaftigkeit des Tuns erhöht die Produktivität. Das hatte schon der Philosoph Immanuel Kant erfahren, als er sein Leben nach der Uhr führte und im hohen Alter von 57 Jahren sein wichtigstes und größtes Werk verfassen sollte. Roth hatte Eltern, die ihm solche Strukturen vorlebten. Bei seinem Vater Herman und seiner Mutter Bess lief alles über eiserne Selbstdisziplin.
Erst im hohen Alter versiegte seine Schaffenskraft. Im Jahr 2014 war Schluss. Roth veröffentlichte seinen letzten Roman: „Nemesis“. Vier Jahre später war er tot. Bei seiner Beerdigung las Julia Golier, die Mutter zweier Kinder, eine melancholische Passage aus seinem Roman „American Pastoral“ vor: „Ja, allein sind wir, zutiefst allein, und immer wartet eine noch tiefere Schicht der Einsamkeit auf uns.“