1. Startseite
  2. Kultur
  3. Literatur

Besuch aus der Tiefe

Erstellt: Aktualisiert:

Kommentare

Die Medlevinger von Kirsten Boie: Wenn Fantasy-Stoff in einem handfesten Krimi aufgeht

Von SIMONE GIESEN

Einst lebten die Menschen und das Zwergenvolk, die Medlevinger, friedlich zusammen. Als aber die Menschen begannen, Kriege zu führen, und nur noch ans Geld dachten, zogen sich die Medlevinger zurück in ein unterirdisches Land. Unter der Führung ihres Königs, der viel lieber Gärtner ist als Regent (eine charismatische Gegenfigur zu Nöstlingers garstigem Gurkenkönig), genießen sie die schönen Dinge eines ländlichen Alltags, gutes Essen zum Beispiel. Doch einer von ihnen nimmt heimlich wieder Kontakt auf zur Menschenwelt. Mit ihm verschwinden mehrere Medlevinger spurlos. So auch der Erfinder Vedur, der deshalb den 13. Geburtstag seines Sohnes Nis verpasst. Das ist ein wichtiges Datum bei den Medlevingern, sozusagen der Schritt ins Erwachsenenleben. Besorgt macht sich Nis mit Freundin Moa auf die Suche nach seinem Vater. In Vedurs Werkstatt stoßen sie auf einen Geheimgang nach "oben".

Bei den Menschen, auf einem kleinen Hinterhof in Hamburg, endet dieser Gang. Dort entdeckt der zwölfjährige Johannes die beiden Wichte aus der Unterwelt, die ihm gerade bis zum Knie reichen. Die Kollision von Mensch und Medlevinger geht mit höchst amüsanten Missverständnissen einher. Verblüfft, aber auch mit großer Neugier auf Neues und Sonderbares, werden die Kinder aus den verschiedenen Welten warm miteinander. Johannes versteckt Nis und Moa in seinem Zimmer, und die gewinnen ihn bald für ihre Suche nach den vermissten Medlevingern.

Obwohl Kirsten Boie mit der einfachen, genügsamen Lebensphilosophie der Medlevinger sympathisiert, die in manchen Zügen ein wenig an Tolkiens Hobbits erinnern, und das Aufeinandertreffen zweier so unterschiedlicher Kulturen auch nutzt, um zu hinterfragen, was im menschlichen Miteinander heutzutage im Argen liegt, spielt sie die beiden Sphären nicht gegeneinander aus. Die Medlevinger sind gleichermaßen befremdet und fasziniert von den vielen Geräten, die mit "Strömekraft" wie von selbst funktionieren. Und mit Johannes' Hilfe finden sie sich auch zurecht in der turbulenten Großstadt mit ihrem dichten Verkehr und den verwirrenden Lichtern.

Und so könnte es eine fruchtbare Begegnung werden, wenn da nicht "der Kain" wäre. Das ist ein Mensch, der Jagd auf das kleine Volk macht, um an dessen magische Kräfte zu kommen. Nis und Moa vermuten Vedur in seiner Gewalt. So wird das Buch unversehens auch zu einem handfesten Krimi. Namen gilt es zu entschlüsseln und eine verschwundene silberne Gürtelschnalle zu finden; so mancher Fiesling gerät in Verdacht.

Boie verquickt gekonnt Spannung, Komik, fantastische Kuriosa und die authentischen Befindlichkeiten heutiger Kinder, die sie seit nun bald 20 Jahren mit einem bestechenden Feingefühl erkundet. Tagesaktuelle Sujets kommen auch in diesem Buch ins Spiel: Mobbing unter Schülern beispielsweise oder starke Mädchen- und Frauenfiguren wie Johannes' allein erziehende forsche Mutter und die freche, kluge Göre Moa - ohne den abenteuerlichen Plot zu überfrachten.

Mit magischer wie menschlicher Energie stellen sich die Kinder den Gefahren. Nis und Moa sind nicht die letzten Medlevinger, die sich in der Menschenwelt umschauen. Da die beschauliche Idylle ihrer Welt den Verzicht auf die verführerischen Erfindungen der Menschen voraussetzt, wird am Ende dieser famosen Geschichte eine Entscheidung fällig, die hier nicht verraten werden soll.

Auch interessant

Kommentare