Bertolt Brecht: Erfolg mitten unter den Wölfen

Von wegen „der arme B.B.“: Anmerkungen anlässlich des Geburtstages von Bertolt Brecht.
Heute vor 125 Jahren wurde Eugen Berthold Friedrich Brecht in Augsburg geboren. Niemand kennt diesen Menschen. Wir kennen Bertolt oder Bert Brecht. Das ist seine Erfindung. Wie der „Galilei“, wie die „Mutter Courage“ oder die „Dreigroschenoper“. Bevor er all das erfand, erfand er sich selbst. Brecht war ein Projekt, das er Schritt für Schritt realisierte. Er entwickelte sich nicht, sondern bewegte sich im Handgemenge. In der ständigen Auseinandersetzung mit dem, was ihm begegnete, was sich ihm in den Weg stellte und mit dem, dem er sich in den Weg stellte.
Mit dem Erfinden verhielt es sich bei Brecht meist so, wie er das bei seinem Namen getan hatte. Er nahm das Material und formte es um. Die Stücke, die ich gerade erwähnt habe, sind alles Bearbeitungen von etwas, das es gab. „Überschreibungen“ würde man heute vielleicht sagen. Brecht war ein Ausbeuter. Er benutzte Stoffe, die wie zum Beispiel John Gays „Beggar’s Opera“ irgendwo vergraben in der Theatergeschichte lagen, und machte daraus etwas sensationell Neues, die „Dreigroschenoper“. Unter Ausbeutung auch der Übersetzungsarbeit von Elisabeth Hauptmann.
Das „und der Haifisch, der hat Zähne“ der Moritat von Mackie Messer war die erste Brechtsche Gedichtzeile, die ich in meinem Leben hörte. Es war im Musikraum der Musterschule in Frankfurt am Main. Unser Musiklehrer war krank. Unser Klassen- und Lateinlehrer Sporn vertrat ihn. Er setzte sich an den Flügel und spielte und sang die Moritat auf Latein! Ich war hingerissen. Ich bin sicher, Brecht wäre es auch gewesen. Ein Superverfremdungseffekt! Wenn für den allerdings gilt, dass es darum geht, das Vertraute unvertraut zu machen, dann war er bei mir keiner. Ich kannte den Song nicht und schon gar nicht den Text. Sporn schrieb ihn an die Tafel und wir sangen ihn begeistert mit. Auf Latein.
Kurt Weills Musik zu diesem Song wurde übrigens mit jahrzehntelanger Verspätung des Plagiats bezichtigt. Er habe sich dabei eines 1927 bekannten Werbesongs bedient. Ich glaube das sofort. Aber ich glaube auch an die Zauberkraft des kleinen Unterschieds. Was macht aus dem vergessenen Werbesong von 1927 einen bis heute sich immer wieder neu durchsetzenden Welthit?
Als Sporn uns Ende der 50er-Jahre Brecht vorspielte, war das eine Positionierung in einem gerade in Frankfurt heftig ausgetragenen Streit. Brecht war in der Bundesrepublik verpönt. Er war Kommunist, der berühmteste Autor der DDR und damit im Westen eine Persona non grata.
Der Generalintendant der Städtischen Bühnen Frankfurt war Harry Buckwitz. Er brachte ein Brecht-Stück nach dem anderen auf die Bühne. Darunter die „Mutter Courage“ mit Therese Giese. Ich war – fanden meine Eltern – noch zu klein dafür. Die Musterschule stand damals auf der Seite von Buckwitz. Das Schülertheater überholte ihn links und inszenierte Wladimir Majakowskis „Die Wanze“.
Zurück zu Brecht. Er war Kommunist und er arbeitete in der DDR. Aber er war von den Oberen ein gerade noch gelittener, keineswegs ein von ihnen geliebter und geschätzter Autor. Ich schreibe diesen Artikel in einem Büro im Maxim-Gorki-Theater. Das war geplant gewesen als ein Gegenmodell zu Brechts „Berliner Ensemble“. Hier sollte die sowjetische, die wahrhaft sozialistische Dramatik eine Heimstatt haben. Es kam anders.
Bert Brecht hatte ein überaus erfolgreiches eigenes Theater am Schiffbauerdamm, das ihm von einem Regime übergeben worden war, das niemals aufhörte, ihn argwöhnisch zu beobachten. Im Exil in den USA gewann „der arme B. B.“ den oscardekorierten Charles Laughton dafür, den Galilei zu spielen.
Man darf sich von Brechts Selbststilisierung nicht täuschen lassen. Er war ein Erfolgsmensch, einer, der aus vielen Schlachten als Sieger hervorgegangen war.
Einen winzigen Ausschnitt aus einer kleineren dieser Schlachten können Sie sich auf Youtube ansehen: Brechts Auftritt vor dem Komitee zur Untersuchung von „un-American activities“. Eine gekonnte Eulenspiegelei. Von Arnfrid Astel stammt der Aphorismus „Zwischen allen Stühlen sitzt der Liberale – in einem Sessel“. Brecht stand wohl vor Augen, was der Jesus des Matthäusevangeliums seinen Jüngern sagt: „Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.“ Wobei er das „ohne Falsch“ – glaube ich – gerne strich. Dagegen – die Vögel vergessend – gerne, wo es sich anbot, so tat, als habe er nichts gehört.
Der ungeheure Erfolg der „Dreigroschenoper“ von 1928 brachte Brecht dazu, sich an einen Dreigroschen-Roman zu setzen und auch an einem Skript für einen Dreigroschenoper-Film zu arbeiten. Die Idee, auf dieser Welle in den großen Wohlstand zu reiten, war ihm nicht zuwider. Große Autos und ein großzügiger Lebensstil wollten schließlich finanziert sein. Brecht genoss den Widerspruch zwischen seinem finanziellen Erfolg und seiner politischen Haltung. Man könnte auf den Verdacht kommen, er sei Kommunist – nicht Mitglied einer kommunistischen Partei – geworden, weil es so einen dekorativen Kontrast bildete zu seinem Erfolg mitten unter Wölfen.
Auch sein Verbot in der Bundesrepublik war eine Reklame, wie er selbst sie sich nicht hätte besser ausdenken können. Dass ihn beide Regierungen nicht mochten, dass sie beide ihm aber ernsthaft nichts anhaben konnten, das war die Art von Glück, die der in der Kunst der Schlangenklugheit Tüchtige hat. Brecht pries die Sowjetunion, aber so dumm war er nicht, sie als seinen Emigrationsort zu wählen.
Verfremdung, zitierte ich, sei die Kunst, das Vertraute sich unvertraut zu machen. Das gilt mehr noch als für das Theater fürs Leben. Man erkennt seine Lage erst, wenn man sich von ihr distanziert. In „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ zeigte er den Aufstieg Adolf Hitlers als den einer Gangstergang. Ich weiß nicht, ob ihm wirklich nie die Idee kam, dass er so auch den Stalins hätte beschreiben können – und müssen. Mein Verdacht ist, der mobile Verstand Brechts ließ ihn das erkennen, aber der Überlebenswille der von ihm kreierten Marke Bert Brecht hinderte ihn, diesen Schritt zu tun. Er hätte womöglich zwischen allen Stühlen nicht einmal mehr auf dem Boden gehockt.
Die Verbrechen des Stalinismus – das war das Gesicht des Kommunismus zu Brechts Lebzeiten – waren offensichtlich. Man konnte zusehen, wie Stalin mehr Kommunisten umbringen ließ als irgendjemand sonst. Brecht schrieb 1953 „Die Lösung“: „Nach dem Aufstand des 17.Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, dass das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / Zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“
Ich mochte diese Zeilen schon immer. Aber aus den falschen Gründen. Ich las sie als den Versuch Brechts, die Politik der Partei ad absurdum zu führen. Das war nicht falsch. Aber naiv war es, nicht die Wahrheit in dieser scheinbaren Absurdität zu sehen. Die Partei war ständig auf der Suche nach einem neuen Volk. Sie versuchte durch Verurteilungen, Vertreibungen, Säuberungen seit es sie gab ein ihr passendes, ihr gehorchendes Volk zu erschaffen. Das war das Lebenselement des realen Sozialismus, das für viele den Tod bedeutete.
Ich glaube auch hier wieder, dass Brecht genau wusste, dass er eine Tatsache beschrieb und nicht die Wirklichkeit absurd übertrieb. Manche Schlangen zeichnen sich durch Doppelzüngigkeit aus.
Jeder Karl Marx lesende Bürger, jede Bürgerin der DDR ahnte, wie subversiv die Lektüre eines von allen Schulen empfohlenen Klassikers sein konnte, wenn man seine Kapitalismus-Kritik verbotenerweise auf den Sozialismus anwendete.
„Me-ti, Buch der Wendungen“ heißt eine Sammlung von Texten Brechts, die erst aus dem Nachlass erschien. Er setzt dort eine chinesische Tarnkappe auf, die über die viel wichtigere hinweg täuscht, dass er über den Kapitalismus schreibend, immer wieder auch den Sozialismus im Auge hat.
„Das Alte Neue“ ist eine der Notizen überschrieben: „Zu Me-ti sagte ein Schüler: Was du lehrst, ist nicht neu. Dasselbe haben Ka-meh und Mi-en-leh gelehrt und unzählige außer ihnen. Me-ti antwortete: ich lehre es, weil es alt ist, d. h. weil es vergessen werden und als nur für vergangene Zeiten gültig betrachtet werden könnte. Gibt es nicht ungeheuer Viele, für die es ganz neu ist?“