Bernardine Evaristo: „Es geht natürlich darum, wen Sie entscheiden lassen“

Bernardine Evaristo über Preisjurys, ihren Roman „Mr. Loverman“ und die Frage, wohin die Reise für England geht.
Mrs. Evaristo, Ihr Roman „Mr. Loverman“ ist fast zehn Jahre alt – wie lesen Sie das Buch heute?
Als es damals fertig war, gab es viele Veranstaltungen, einige Jahre hatte ich also ohnehin noch viel damit zu tun. Das ist typisch für mich, ich schreibe nicht ein Buch, um es dann einfach wieder zu vergessen. Es ist für mich eine ganze Weile noch sehr lebendig. Allerdings habe ich es in all den Jahren nicht mehr ordentlich von Anfang bis Ende durchgelesen. Jetzt hat es mir beim Lesen viel Freude gemacht. „Mr. Loverman“ ist diese Art von Buch, bei der ich denke: Wo habe ich das hergenommen, wie konnte ich das schreiben? Das werde ich natürlich derzeit häufig gefragt, und ich kann nur sagen: Ich verstehe es auch nicht so ganz.
Mögen Sie Ihre Bücher, wenn Sie Ihnen mit Abstand wieder begegnen?
In unterschiedlichen Abstufungen schon, ja. Ich bin auf meine Arbeit insgesamt stolz. Sie ist, was sie ist, und ich habe die Bücher geschrieben, die ich schreiben wollte. Sie sind experimentell, sie sind entdeckungsfreudig und dringen in Gefilde vor, über die noch nicht oder wenigstens noch nicht so viel geschrieben worden ist. Ich kann zu meiner Arbeit stehen. Aber es gibt sicher welche, die ich mehr mag als andere.
Und „Mr. Loverman“ ist eines davon?
Definitiv. Es ist ein bisschen verrückt, aber ich habe mir diesen Mann ausgedacht und diesen Humor, und jetzt ist beides da und unterhält wiederum mich.
Wie kam es denn seinerzeit an?
Sehr gut, würde ich sagen, und das war nicht bei allen meinen Büchern so.
Warum mussten wir so lange darauf warten?
Das müssen Sie die Verlagsleute fragen ...
... oder die Booker-Prize-Leute. Ohne den Booker Prize 2019 für „Mädchen, Frau etc.“ wäre das alles nicht wirklich in Gang gekommen, oder?
In der Tat, ohne Booker Prize keine 61 Übersetzungen meiner Bücher, oder wie viele es inzwischen sind. Vorher waren es vier. Ich wollte immer schon auf den deutschen Buchmarkt, aber es hat all die Jahre nicht geklappt. Was soll man machen?
Zur Person
Bernardine Evaristo, 1959 in London geboren, ist mit ihrem Roman „Mädchen, Frau etc.“, der 2019 den Booker Prize gewannt, in Deutschland auf einen Schlag bekannt geworden. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und veröffentlicht seit Mitte der 90er Jahre Gedichte, essayistische Texte und Romane.
„Mr. Loverman“, 2013 auf Englisch erschienen, ist nach „Mädchen, Frau etc.“ und dem Essay „Manifesto: Warum ich niemals aufgebe“ (2022) das dritte Buch von Evaristo, das auf Deutsch erscheint. Im Handumdrehen war die 3. Auflage erreicht. A. d. Engl. v. Tanja Handels, Tropen, Stuttgart 2023. 336 S., 25 Euro.
Evaristo erzählt von einem Mann namens Barrington Jedidiah Walker, der aus Antigua stammt und in England lebt. Er ist verheiratet, das Paar hat zwei Kinder, jetzt ist er 74 Jahre alt und will sich endlich zu der Liebe seines Lebens bekennen: einem Mann. Seine Frau ahnt etwas, aber das ahnt sie nicht. Da Barry ein ziemlicher Gockel ist und aus einer Welt kommt, in der Homosexualität des Teufels ist, verläuft das geplante Coming-out anstrengend für alle Beteiligten.
Sie schreiben seit Jahrzehnten. Gab es sozusagen eine Sekunde in der Geschichte, in der eine solche Auszeichnung plötzlich und endlich möglich war?
Der Booker Prize wird jedes Jahr von einer wechselnden Jury vergeben. Seine fast gesamte Existenz über gab es keine schwarze Jurorin, keinen schwarzen Juror. Ich weiß gar nicht mehr, wann der erste asiatischstämmige Juror dabei war, vielleicht vor zehn, zwölf Jahren. Die Jury war immer weiß, und ich will hier gar nicht behaupten, dass eine weiße Jury nicht in der Lage gewesen wäre, ein Buch wie „Girl, Woman, Other“ auszuwählen, aber Fakt ist eben, dass sie es nicht getan hat. Früher vor allem war die Jury zudem noch klassisches Establishment, Oxford-Professoren. Oder Tory-Politiker, und ich kann Ihnen versichern, dass es wohl ungefähr das letzte wäre, was eine Jury aus Tory-Politikern tun würde: mich für einen solchen Preis auszusuchen. In dem Jahr, in dem ich gewonnen habe, saßen zwei women of colour in der Jury und vier Frauen insgesamt. Das hatte es bis dahin noch nie gegeben. Das heißt, es geht natürlich darum, wen sie entscheiden lassen. Und ich hatte Glück.
Wie haben sich die Dinge seither in England entwickelt?
In dieser Frage wirklich gut. Es erscheinen viel mehr Bücher von schwarzen Autorinnen und Autoren, vermutlich von mehr Frauen als Männern, was die Romane betrifft. Mag sein, dass es auch Verlage gibt, die jetzt denken: Wir müssen das auch machen, wir müssen dabei sein. Das ist okay. Viele neue Stimmen kommen dazu, das ist aufregend und gut. Ich interessiere mich vor allem dafür, dass daraus ernsthafte Karrieren entstehen, dass jemand in meinem Alter auf ein Werk zurückblicken und immer noch schreiben und veröffentlichen kann. Der Punkt ist nicht, dass jemand mal ein Buch oder auch zwei Bücher publizieren kann und dann fallengelassen wird. Das hat es schon immer gegeben.
Sowohl „Mädchen, Frau etc.“ als auch „Mr. Loverman“ sind nicht nur witzig mit Blick auf sehr ernste Themen, sie haben auch eine Zärtlichkeit, Gelassenheit und Selbstironie den Menschen gegenüber. Kommt uns das alles gerade etwas abhanden?
Was ich versuche, ist jedenfalls darüber zu schreiben, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Das klingt klischeehaft und ist zugegebenermaßen das, was alle tun, die Roman schreiben. Aber in diesem Zusammenhang ist es vielleicht schon wichtig, dass ich meine Figuren nicht beurteilen will. Ich will ihnen die Möglichkeit geben, einfach da zu sein. Widersprüchlich zu sein, respektlos zu sein. Das bin ich ja als Schriftstellerin auch, das erlaube ich mir: respektlos zu sein, mit freundlichem und weniger freundlichem Spott auf das zu blicken, was wir Menschen eben sind. Das ist es, was ich zu den Diskussionen unserer Tage beitragen will. Ich möchte Bücher schreiben, die das Verständnis füreinander erweitern und vertiefen. Bücher, die sich mit dem Menschsein befassen, das wir alle teilen.
Gibt es Themen, die Sie selbst aggressiv machen?
Ich werde grundsätzlich nicht aggressiv, das kann ich hier ja mal behaupten. Aber Ärger ist für mich eine Frage der Haltung, und selbstverständlich ärgere ich mich. Ich bin empört über viele Dinge in der Welt, über Trump, Bolsonaro, den Brexit, Boris Johnson, Putin. Aber ich habe mich auch immer machtlos gefühlt, so dass ich meine Energie gut einteilen muss. Ich will nicht implodieren, weil ich so empört bin und so wenig tun kann.
Wo wird Großbritannien in, sagen wir: fünf Jahren sein?
O je, ich weiß es nicht. Die Medien im Land sind im Großen und Ganzen konservativ, damit meine ich vor allem die Zeitungen, nicht alle, aber doch die meisten. Die Leute haben zudem ein kurzes Erinnerungsvermögen. Wenn die Politik alles vermasselt, scheinen sie das trotzdem schnell zu vergessen oder jedenfalls zu vergeben. Schwer für mich zu sagen, ob das auch mit den Sozialen Medien zu tun hat, jedenfalls behalten die meisten Leute nicht die Informationen im Kopf, die sie behalten müssten. In Großbritannien sind meistens die Tories an der Macht und haben so viel vermasselt, und doch sieht es so aus, als würden die Menschen ihnen immer wieder verzeihen. Als Boris Johnson Premier war, wiederholte er bestimmte Dinge einfach wieder und wieder, und das funktionierte, wie eine Gehirnwäsche. In fünf Jahren? Ich weiß es nicht. Es geht der Wirtschaft nicht gut, viele Menschen haben finanziell schwer zu kämpfen, der Brexit ist ein Alptraum. Aber die Zeitungen, die damals dafür plädiert haben, werden das jetzt nicht zugeben. Es wird also weiterhin viel getäuscht.
Gibt es eine Proteststimmung?
Eher nicht, die Leute sind zu sehr mit Tik-Tok beschäftigt, fürchte ich. Zwölf Jahre Tory-Regierungen, viele sind verärgert, und in den Sozialen Medien äußern sie das auch, aber das ist nicht sehr wirkungsvoll. Es bleibt halt dort.