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Der begeisterte Animateur

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Von: Arno Widmann

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Hans Magnus Enzensberger: Stets ermutigte er uns, uns zu bewegen. Hierhin und dorthin. Zum Aufstehen.
Hans Magnus Enzensberger: Stets ermutigte er uns, uns zu bewegen. Hierhin und dorthin. Zum Aufstehen. © imago/Martin Müller

Hans Magnus Enzensberger gelang es immer wieder, die satt sich fläzenden Leser aufzuscheuchen, sie mit einem Gedanken zu erregen, sie wieder sich streiten zu lassen. Zum 85. des großen Intellektuellen.

Danke! Was sonst soll man sagen? Hans Magnus Enzensberger wird heute 85. Er war da, als man zu denken begann, und als man begann, Ernst damit zu machen, dachte man ihm nach. Seinen Gedichten und seinen Essays. Danke!

„Gibt es gerechte Mörder? Ist jedermann ein Verräter? Wozu dienen Staatsgeheimnisse? Gibt es Landesväter, die Gangster, und Gangster, die Unternehmer sind? Gibt es noch Unschuldige?“ Diese Fragen stellte Hans Magnus Enzensberger vor fünfzig Jahren in der Schlussbemerkung zu „neun Versuchen, einen Zusammenhang aufzuklären, an dem alle sterben können, für den aber niemand zuständig ist: den Zusammenhang zwischen Politik und Verbrechen.“ Das war der Titel einer Essaysammlung, in der er sich mit Kriminalfällen, organisiertem Verbrechen, dem Terrorismus und dem Verrat-Tabu auseinandersetzte. Wer diese Texte heute liest, der wird feststellen, wir hätten Enzensberger im vergangenen halben Jahrhundert weniger loben, dafür besser lesen sollen. Wir würden heute zum Beispiel nicht dastehen und so tun, als sei der Terrorismus uns etwas Fremdes. Bücher sind nicht zuletzt dazu da, uns Erfahrungen zu ersparen. Schreiben ist probehandeln. Lesen auch. Wir machen zu wenig Gebrauch davon.

Und wenn doch, dann nutzen wir die Texte oft nicht, sondern identifizieren uns mit ihnen. Das Verständnis aber, das Enzensberger entwickelte zum Beispiel für die Lebensweise, auch für die Handlungen der Zarenmörder, diente der Einsicht in die Verhältnisse – nicht der Identifikation mit einer pathetischen Ästhetik der Verzweiflung. Es gab dieses Missverständnis der Enzensberger-Leser. Dabei ist niemand dem identifikatorischen Lesen so konsequent entgegengetreten wie Enzensberger. Nicht, indem er es vermied. Im Gegenteil. Er war ein begeisterter Animateur, dem es immer wieder gelang, die satt sich fläzenden Leser aufzuscheuchen, sie mit einem Gedanken zu erregen, sie wieder sich streiten zu lassen über Kuriosa wie die Rechtschreibreform oder auch darüber, ob das Boot voll sei, dargestellt am etwas altmodischen, jedenfalls ICE-fernen Beispiel der „Bewohner“ eines Zugabteils, für die jeder Neue ein Eindringling ist in die doch gerade erst entstandene Vertrautheit. Enzensberger nutzt die Identifikation, sie nicht zu erreichen, wäre ein Zeichen künstlerischen Versagens. Er bekämpft sie durch Multiplikation. Identifikationen lösen einander ab, verdrängen einander. Der Verrat ist Teil seiner Kunst.

Enzensberger hat uns vorgeführt, auch dafür danken wir ihm, dass wir, wenn wir etwas verstehen wollen, nicht nur möglichst nahe an es heran, sondern in es hinein müssen. Dass wir es aber auch wieder verlassen müssen, um es begreifen zu können. Die Freiheit eines Christenmenschen bestand bekanntlich darin, „ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan“ und zugleich, so Luther, „dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ zu sein.

Stets ermutigte er uns, uns zu bewegen

Nichts anderes, scheint mir, ist Enzensbergers Leser. Er weiß, er versteht nur durch Ein- und Anpassung und zugleich nur, wenn er frei ist. Er ist auch nur frei, soweit er versteht. Das kann man bei Enzensberger lernen. Das kindliche, identifikatorische, imitierende Lesen ist also richtig. Solange das Zappen nicht vergessen wird. Konzentrierte Aufmerksamkeit ist nötig, aber ebenso wichtig ist der Wechsel des Objekts der Begierde. Oder doch jedenfalls der Blickrichtung. Da ist zum Beispiel das Beichtgedicht „Unterlassungssünden“, das er 2001 einer kleinen Anthologie von Arbeiten aus den Jahren 1950 bis 2000 nachstellte. Ja, er habe nicht bis zur letzten Patrone gekämpft, er habe es unterlassen, dem Penner die Bruderhand zu küssen: „Wenn ihr könnt, verzeiht mir.“/ Leerzeile/ „Oder ihr lasst es bleiben.“

So funktioniert Enzensberger. Alle Fehler selbst einzugestehen, „Kritik und Selbstkritik“, ist keine Demutsgeste, sondern durch sie befreit er sich für einen Neuanfang. Es ist der Sprung aus der einen in die andere Haut. Enzensberger hat ein „Requiem für eine romantische Frau“ und über den „Zahlenteufel“, über Hedge Fonds und die Methoden geschrieben, mit denen Heilige ihre Tätigkeitsfelder zugeschrieben bekommen.

Vor fünfzig Jahren schrieb Enzensberger: „Geschichtsphilosoph und Ethnologe, Historiker und Jurist, Soziologe und Psychiater müsste einer sein, der dafür (für den Zusammenhang von Politik und Verbrechen) kompetent wäre – dies alles und noch mehr, nämlich mehr als ein bloßer ‚Experte‘. Das alles bin ich nicht.“ Für Erklärungen wie diese sind seine Leser ihm dankbar. Er hat ihnen geholfen, den Mut zu finden, die einfachen Fragen zu stellen. Zum Beispiel: Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit. Was bedeutet das für den Bau von Kernkraftwerken? Oder: Wie teilt man den in 10 000 Jahren lebenden Menschen mit, dass in dem Bergwerk vor ihnen nuklearer Abfall begraben liegt?

Noch wichtiger aber als Enzensbergers Texte war, was er tat. Er war ein Vortänzer. Er animierte uns, uns zu bewegen. Hierhin und dorthin. Durch ihn begriffen wir, dass eine Neugierde, die nicht trainiert wird, ein Standpunkt, eine Ideologie wird. Wenn man anfängt sich wohlzufühlen in seinen Gedanken, muss man aufstehen, um sich auch später noch wohlfühlen zu können. Denken macht traurig. Wenn es auf einem Standpunkt verharrt, wenn es nicht in die Gänge kommt, wenn es dem Schock neuer Einsichten ausweicht, dann wird es zu brütender Selbstzerstörung.

Ihr zu entgehen, hat Enzensberger sich immer neue Gestalten gefunden und immer neue Interessen.

Dafür danken wir ihm.

Wir danken ihm auch für Verse wie diese, das Gedicht „Leisere Töne“: „Immer nur die Dosis steigern,/ ganz verkehrt. Vorübergehend/ das meiste beiseite lassen – / auch nicht schlecht: weichere Wörter,/ weniger Krach in der Lyrik/ und im Verbrauchermarkt./ Möglicherweise kommt sie ja noch,/ die blaue Stunde, vorübergehend,/ bevor der nächste Versager beginnt,/ in die Menge zu feuern./ Flaumige Sachen, adagio,/ bis zur Gedankenlosigkeit aufmerksam/ an etwas Nachgiebiges rühren,/ an einen Mundwinkel oder ein Moos./ Überhaupt, auf die geringfügigeren Gefühle/ ist am ehesten noch Verlass.“

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