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Aufforderung zum Denken

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So hell und doch undurchschaubar: Die Sonne, Thomas Lehrs schlafende Titelheldin.
So hell und doch undurchschaubar: Die Sonne, Thomas Lehrs schlafende Titelheldin. © afp

Thomas Lehrs Roman "Schlafende Sonne" ist vermutlich die unterhaltsamste Heraus- und Überforderung der Saison.

Dieser Roman, ein Roman über praktisch alles, jedenfalls extrem viel, ist Licht in der Finsternis. Denn hier muss hochgegriffen werden. Anders als die Aufklärer hervorhoben, verhält es sich mit dem Licht zudem eher noch komplizierter als mit dem Dunkel (bei dem immerhin die Möglichkeit besteht, dass da einfach nichts ist). 

Als Folge davon würde man sich nun gerne von Thomas Lehr jeden Satz, fast jeden Satz dieses lichtdurchfluteten, leuchtenden Romans erläutern lassen. Das würde dauern. Im Kosmos – es ist natürlich auch ein Roman über den Kosmos – stellt sich Zeit aber entspannter dar als im Leben eines kleinen Menschen. Dessen größtes Gestirn, seinerseits ein kleines Licht unter ungezählten anderen in der Gesamtsituation dort draußen, hat es zum Titelhelden gebracht – verrätselt auch dies, ein schlafender Titelheld, aber die Literaturgeschichte kennt Beispiele. Ferner ist er zentraler Forschungsgegenstand mehrerer Protagonisten, und auch die Nichtphysiker sind mit den Geheimnissen des Lichts befasst.

„Schlafende Sonne“, nach einer Wendung der Romanheldin Milena, heißt das Buch, das nicht nur selbst groß ist, sondern auch lediglich der erste Teil eines noch weiter ausgreifenden Projektes. Teil II, kündigte Thomas Lehr bei einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus an, werde sich mit der Weimarer Republik beschäftigen, Teil III mit der NS-Zeit. Denn obwohl „Schlafende Sonne“ ein Koloss ist, auch ein Theoriekoloss – dabei aber so beschwingt und lebenszugewandt wie viele Bücher gerne wären und doch, um im Bild zu bleiben, Lichtjahre davon entfernt sind –, gibt Lehr dem Lesenden und eventuell Taumelnden doch einiges an die Hand.

Milena ist eine Künstlerin aus Dresden, als Schülerin hat sie die Wende hautnah und engagiert erlebt, dann in Göttingen Philosophie studiert, sich schließlich für die Bildende Kunst entschieden. „Ich sehe schon, du willst mehr als denken“, sagt ein Professor zu ihr. „Malen ist Denken“, sagt Milena selbst an anderer Stelle. Göttingen, „geografische Mitte (Gesamt-)Deutschlands“ ist kein Zufall, sondern bei Lehr „eine Art Spiegel-Weimar, das anstelle von Goethe und Schiller mit einer lichtspendenden Fusion von Mathe, Physik, Grünkohl, Herrentorte und Phänomenologie aufwartete“. 

Milena hat einen älteren Ex-Mentor, den Dokumentarfilmer Rudolf, sie hat einen Noch-Ehemann, Jonas, ebenfalls westdeutscher Physiker. Alle drei Hauptfiguren – mit Milena als erster unter Ungleichen – haben Geschichten, Freunde, Familien (alles rasend interessant).  Milenas Interesse, ihre Liebe und Zuneigung als Philosophin gilt Edmund Husserl und Edith Stein, die im Buch als Edmond und Esther Goldmann auftreten. Mit ihnen und Reinhold Strecker (Heidegger) als dem von den Zeitläuften grauenhaft bevorzugten Gegenspieler öffnet sich das Geschehen in die deutsche Geschichte hinein. „Ich denke es, also sind wir“, wird hier Descartes in husserlsche Phänomenlologie modifiziert. Denken ist unter den Figuren in „Schlafende Sonne“ Usus. Material dazu finden sie in der Philosophie, aber auch der Geschichte und Zeitgeschichte, Literatur und Kunst. 

Über eine kühle Professorin, Rudolfs Ex („niemand ist in Edmond besser als sie“), heißt es: „Latein und Griechisch, Englisch und Französisch, formale Logik und Mathematik stehen ihr zu Gebote wie ein Feinmechaniker-Werkkasten, in den sie mit blinder Sicherheit greift.“ Auch Lehr zieht aus dem Werkkasten, was er brauchen kann (in die Solarphysik hat er sich fleißig eingearbeitet). Nichts davon kommt im Roman als Bildungshuberei an. Und selbst Lehrs teils satirisch verschlungene Namensänderungen für historische Figuren sind kein Ratespiel, sondern die Erschaffung eines milenaischen Paralleluniversums. Alles sitzt. So weit man es beurteilen kann.

Milena, die wirklich denken will und denkt, muss das faszinieren. „Allein der Begriff der Phänomenologie straffte ihren Oberkörper, als hätte man sie zum Tanz aufgefordert.“ Wer auch noch vorausdenkt, malt sich hinten ins Buch Stammbäume und Diagramme, um das Personal und seine lebhaften und wechselnden Beziehungen zueinander im Griff zu behalten. Lehr spielt kein Versteckspiel in, wie gesagt, lichtdurchfluteten Räumen, aber er will auch nicht immer alles wieder von Anfang an erklären. Er will ohnehin nicht von Anfang an erklären.

Eine intensive Erzählung

Lehr erzählt aus insgesamt etwa hundert deutschen Jahren nicht chronologisch, aber mit immenser szenischer Intensität bei wechselnden Perspektiven. Glücklicherweise bekommt die meisten Szenen Milena selbst, die Übermut und Reflexion zu solchen Sätzen verbindet: „Fing mich nicht dein Blick, so verfiel ich deinem schönen Satzbau“ (als sie sich kurz nach der Wende, beide noch in anderer Begleitung, in den USA in Jonas verguckt. So schön ist Jonas’ Satzbau übrigens gar nicht, aber so ist sie, die Liebe). Oder zu solchen (nach dem Fall der Mauer jenseits des Checkpoint Charlie): „Es war durchaus wie die Landung auf dem Planeten der Affen, was den Irrealitätsgrad und die allgemeine Gestik anlangt, auch wenn es Sekt statt Bananen gab, ich war dabei, als Schaumwein zwielichtigster Sorten in den helllichten Novembertag sprudelte und es zu wildfremden, artenfremden Umarmungen auf offener Straße immer noch kommen konnte ...“ 

Es gibt also grandiose, lebensgesättigte Kennenlern- und Wiedersehens-Szenen, (auch blutige) Vorwende- und Wendeszenen, Vorlesungs-, Kunstbetriebs- und verwickelte Sex-Szenen, dazu dank des weitgefächerten Personals eindrucksvolle Weltkriegs-Szenen (in der Schlacht und an der Heimatfront). Dass das Plaudereske und das Existenzielle nebeneinander zu stehen kommen, ist der Gang der Dinge. 

Ihre Intensität beziehen die Szenen nicht zuletzt aus einer starken ad-hoc-Präsenz. Lehr selbst empfahl in Frankfurt, sich in seinen Roman fallen zu lassen wie in einen Wirbel (vorne im Buch ist von einer Spirale die Rede, die nach Louise Bourgeois ein Versuch ist, „das Chaos unter Kontrolle zu bringen“). Tatsächlich aber befinden wir uns außerdem in den Bildern einer Ausstellung. Buchstäblich. Die große Klammer – neben der Dreierkonstellation Milena, Rudolf, Jonas – ist eine Milena-Retrospektive, die im Sommer 2011 (im Fukushima-Jahr) in Berlin eröffnet werden soll. Da es eine persönlich gestaltete Rückschau auf ihr bisheriges Leben ist, kann man immer wieder überlegen, ob man sich nicht gerade in einer von Milenas Installationen oder Gemälden befindet. Dafür sprechen auch die kryptischen Kapitelüberschriften. Der Kunstmarkt ist daran gewöhnt und winkt es durch. 

Manchmal beschreibt Lehr Milenas Kunstwerke wie zum Nachbauen, allemal zum direkten Vor-sich-Sehen. Manches könnte es umgekehrt bereits geben. Lehrs Sprachkunst bringt sich in einen Dialog mit der Bildenden Kunst, dass man aus dem (vergeblichen, aber immer wieder hoffnungsvollen) Herumgoogeln kaum noch raus kommt. 

Ein Tag im Sommer 2011 also. Rudolf und Jonas wollen zur Vernissage anreisen. Die viel zu konventionelle Annahme, ein Treffen der drei nebst Aussprache könnte das Finale bilden, geht aber selbstverständlich in die Irre. Lehr verblüfft nun mit einem pandämonischen Spektakel aus dem späten Wilhelminismus, eine gewaltig sich ausbreitende Installation. Viele Männer ihrer Zeit plappern hier durcheinander, Lachhaftes, Durchgeknalltes und Furchtbares. Der Kaiser persönlich schwadroniert in Fraktur. 

Mit Blick auf die Konstruktion als fast hundertseitiges redseliges Anhängsel von ganz anderen Stimmen als bisher lässt sich schon an James Joyces Molly aus „Ulysses“ denken. Das wäre sozusagen die totale Gegen-Molly. Als intellektuelles Gesellschaftspanorama hat das Buch einen Kontakt zu Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Und ist doch ganz eigenständig.  Das „wird fortgesetzt“, mit dem Thomas Lehr endet, macht vergnügter als man es eingangs erwartet, wenn man noch versucht, nicht völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. Den Schlusssatz teilt sich „Schlafende Sonne“ ulkigerweise mit Robert Menasses Europaroman „Die Hauptstadt“, mit dem Lehrs Werk auch um den Deutschen Buchpreis konkurriert.

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