Arno Schmidt: Der einzige bewohnbare Ort ist die Literatur

Sven Hanuschek legt mehr als 40 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers seine umfassende, überaus lesenswerte Arno-Schmidt-Biografie vor.
Am Anfang war die Wohnküche in Hamburg-Hamm: bedrückende Enge und eine urbane Umgebung im „Zille-Stil“ – so schildert Arno Schmidt in einer autobiografischen Skizze die Lebenswirklichkeit seiner ersten 14 Lebensjahre und resümiert: „Ich kann, als Resultat so enger dürftijer Kindheit, nich großzügich denk’n.“
Vielleicht hat er darum die Fülle seiner schriftstellerischen Ideen und Qualitäten, seine kaum auszumessende Belesenheit, seinen abgrundtief weiträumigen Wortschatz und die eindrucksvolle Originalität seiner Ausdrucksfähigkeit nicht als Ergebnis beglückender Inspiration erlebt, sondern als Resultat eines enormen Arbeitspensums. Und der trockene, zuweilen übermütig blitzende und manchmal tiefschwarze Witz, der sein Werk durchzieht, stammt der auch aus Hamburg-Hamm?
Schriftstellerei als Beruf ist kein Spaß, schon gar nicht unter den Bedingungen tiefer Armut, unter denen Schmidt einem großen Teil seiner selbst gestellten Lebensaufgabe nachgegangen ist. Aber „nich großzügich denk’n“ – kann man das unterschreiben bei einem Autor, der als überragender deutschsprachiger Literat der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten muss? Jedenfalls können Leser und Leserinnen sich Arno Schmidt kaum als glücklichen Menschen vorstellen. Und den Autor einer Arno-Schmidt-Biografie? Eine lange Schlange von Problemen steht an. Sie wollen bedacht und gelöst werden. Material ist reichlich und wohlgeordnet vorhanden, aber Zeugnisse von den Menschen in seiner Umgebung sind mehr als vier Jahrzehnte nach seinem Tod schwer oder gar nicht mehr aufzutreiben. „Jede Biografie, als Lebensgeschichte, ist eine Setzung“, schreibt Sven Hanuschek und zitiert Schmidt: „ein Schriftsteller löst sich ja langsam auf, in seinem Werke; den zurückbleibenden schäbigen Rest besieht man sich besser nicht“.
Das Publikum ist aber langsam ungeduldig geworden. Auch wenn es darin geübt ist, schließlich wartet es seit geraumer Zeit auf nicht eine, sondern auf die Arno-Schmidt-Biografie. Es hatte bereits Gelegenheit, sich mit Vorgeschmacks-Material zu versehen – der vor 30 Jahren erschienenen rororo-Monografie, thematisch einschlägigen Studien, Materialsammlungen, Brief-Editionen, erhellenden Bildbände und nicht zuletzt einer vorbildlich seriösen Werk-Edition. Sven Hanuschek hat sich selbstredend durch die Material-Berge gearbeitet. Er ist, wie er schreibt, seit seinem 17. Lebensjahr Schmidt-Leser, und er hat gründlich nachgedacht, wie so eine Arno-Schmidt-Biografie zu schreiben wäre, wenn sie ein angemessenes Verhältnis zwischen Werk und dem „schäbigen Rest“ finden will.
Schmidts Schriftstellerleben ist vor allem Leidensgeschichte. Als Menetekel steht über allem ein großes „Zu spät!“. Die Nazi-Ära hatte dem jungen Mann Jahre für Bildung und berufliche Selbstfindung versagt, und ihre Hinterlassenschaft bestand in einem verwüsteten, zweigeteilten Land, dessen kulturelles Leben den Anschluss an internationale Entwicklungen verloren hatte. Schmidt gerät erst im Alter von mehr als 30 Jahren in eine Situation, die ihm die Chance eröffnet, sich als Schriftsteller zu erfinden.
Dabei fehlen im Lande ein funktionierendes Verlagswesen und ein lebendiges literarisches Leben, dem Autor selbst eine erträgliche Wohnsituation, eine ordentliche Schreibmaschine und manchmal schlicht das Papier. Schmidts Paukenschlag-Debüt, der Kurzroman „Leviathan oder Die beste der Welten“, wurde per Hand auf britische Telegrammformulare geschrieben. Und kaum stellt sich einige Jahre später erster Erfolg ein, wird er schon von bigotten juristischen Händeln verfolgt.
Zu Schmidts Lebensumständen gehören neben der gewissermaßen apriorischen psychischen Ausstattung als Arme-Leute-Kind sowie Heide- und Flachland-Bewohner auch lebenslange Monogamie; notorische Schwierigkeiten, sich im Markt zu behaupten, sich mit Verlegern und ihren Ideen, mit Unterstützern und ihren Möglichkeiten zu arrangieren; persönliche Beziehungen zu ertragen oder zu pflegen; Wohnorte zu finden und zu wechseln. Erst ab Mitte der 1960er Jahre wird das Leben nicht leicht, aber etwas leichter.
Die 2016 von Fanny Esterhazy herausgegebene und von Bernd Rauschenbach kundig kommentierte opulente Bildbiografie ordnete Schmidts Leben nach Wohnorten und folgte damit Vorgaben des Schriftstellers aus dem Jahre 1961: „Da ich in entscheidendem Maße vom Ort abhängig bin, werden diese Groß=Abschnitte als Titel fast immer den Namen meines jeweiligen Aufenthaltsortes tragen“.
In der Welt der Bilder ist ein solches Vorgehen plausibel, aber wenn es um Texte geht und biografische Kontexte, um die Herausbildung eines Charakters und um die allmähliche Entstehung einer vielschichtigen Poetik aus komplex determinierten Anfängen, gibt es Bezüge, die nicht in eine räumliche noch gar chronologische Ordnung einzupassen sind. So weicht Sven Hanuscheks biografische Setzungsarbeit zwar nicht grundlegend von der Wohn-Chronologie ab, verfolgt aber daneben und darüber hinaus Themen entlang der Logik ihrer Entfaltung und Überwindung.
Was Schmidt (scheinbar) als „schäbigen Rest“ abtut, ist immerhin ein komplettes Leben, auch, wenn es wie nebenher im demütigen Dienst an der Literatur geführt wird. Moment: „demütig“? Dieser hochnäsige Besserwisser, der die erzählenden Ichs in seinen Romanen und Geschichten zu überlegenen – nicht unbedingt sympathischen, nie ungebrochenen, oft multiplen – Figuren stilisiert, soll etwas wie Demut gespürt haben? Aber ja: Nicht gegenüber Mitmenschen vielleicht, aber vor der Literatur. Sie war für ihn die einzige bewohnbare Welt.
Diesem Anspruch stellt sich sein Biograf. Sein Vorgehen ist überlegt und systematisch. Jeder biografisch-epochale Abschnitt hat eine eigene Literaturliste, und Hanuschek hat, so scheint es, alles gelesen und über alles nachgedacht. Er ist umsichtig, geduldig und souverän im Umgang mit der Materialfülle. Er ist ein empathischer Erzähler mit wissenschaftlicher Grundhaltung, und er kann Widersprüche ertragen. Es ist, als hätte er Schmidts implizites Konzept einer Meta-Literatur auf die eigene Arbeit angewandt.
Die Biografie liefert auch eine gedankenreiche und präzise Würdigung von Arno Schmidts Poetik, die sich aus dem Ansatz eines „dyadischen Schreibens“ entwickelt hat – also eines Schreibens für einen Leser, eine Leserin, das eine tendenziell symbiotische Nähe zwischen dem Autor und dem oder der Adressierten herzustellen beabsichtigt. Es ist wohl die beständige Erweiterung, Intensivierung und Vertiefung dieses Konzepts, die ihn geprägt hat – über die positivistisch-faktenversessene Fouqué-Biografie, die pointenreiche, psychoanalytisch argumentierende Durchleuchtung des Volksschriftstellers Karl May bis zur Etym-Theorie des Spätwerks, das mit „Zettel’s Traum“ beginnt.
Überraschend mag Hanuscheks Diagnose erscheinen, dass Arno Schmidt im Grunde ein Sprössling der deutschen Romantik sei. Dabei ist das Konzept der romantischen Ironie wie auf ihn gemünzt: Romantische Ironie wendet sich ab und gewinnt dadurch ihre Horizonte. Sie duldet zwischen Literatur und Theorie, Geschichtsschreibung und Fiktion keine Gattungsunterschiede; sie ist im Falle Arno Schmidt durch die Epochen des poetischen Realismus und des Expressionismus gegangen und hat das Vermessen der Welt und die Bedeutung überprüfbaren Wissens nie vernachlässigt.
In Sven Hanuscheks Schmidt-Biografie hat alles seinen Platz: biografische Fakten, Erzählungen und ihre kritische Würdigung, Literatur, Mitwelt, Befindlichkeiten und Psychologie, Klischees und Einwände dagegen, Liebe, Streitereien, Schmidts Soziopathie und seine gewinnende Freundlichkeit. Und immer wieder auch Wendungen gegen die Kollektion handelsüblicher Vorurteile, die gegenüber Arno Schmidt im Schwange sind.
Alles trifft zu, ja, aber nichts stimmt wirklich.