Armin Nassehi: „Unbehagen“ – Die Kunst, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen

Der Krisenmodus ist kaum dazu geeignet, Krisen zu meistern: Armin Nassehi entwirft eine Theorie der überforderten Gesellschaft.
So unterschiedlich die Corona-Pandemie in den vergangenen zwei Jahren erlebt und wahrgenommen werden konnte, wird man sich heute über die sozialen Milieus hinweg vermutlich doch mühelos darauf verständigen, dass einiges so richtig schiefgelaufen ist. In den unterschiedlichen Aggregatzuständen der diskursiven Auseinandersetzung war von Verlust der Normalität, missglücktem Krisenmanagement und unzureichender Ausstattung des Gesundheitswesens ebenso die Rede wie von Corona-Diktatur, Impfzwang und Staatsversagen. Die politischen Repräsentanten wurden wechselweise als selbstherrliche oder verunsicherte Entscheider wahrgenommen, die sich von eilig angeeignetem Expertenwissen und steigenden Inzidenzwerten treiben ließen.
Man konnte es auch ganz anders sehen. Mit einem kühl-distanzierten Blick auf die Leistungsfähigkeit der gesellschaftlichen Funktionssysteme jedenfalls wäre festzustellen gewesen, dass diese durchaus in der Lage waren, ihre Bordmittel zum Einsatz zu bringen. Das Wissenschaftssystem konnte das Virus schnell identifizieren und klassifizieren und stellte in Rekordzeit wirksame Impfstoffe bereit, das medizinische System wartete mit Diagnose- und Therapiemethoden auf.
Zwar waren die wirtschaftlichen Abläufe massiven Störungen ausgesetzt, rasch jedoch standen Reaktionsweisen zur Verfügung, um sich auf die Ausnahmesituation einzustellen. Schulen und Familien haben trotz offensichtlicher Probleme neue Formen des Austauschs etabliert, und das politische System war nach Kräften bemüht, tragfähige Entscheidungen bereitzustellen. Die Gesellschaft habe, so fasst es der Münchner Soziologe Armin Nassehi zusammen, sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Dabei geht es ihm in seinem Buch zur „Theorie der überforderten Gesellschaft“ nicht um eine Bewertung der Krisenbewältigung, vielmehr dient diese als Beispiel, das gesellschaftliche Unbehagen als ambivalentes Grundmotiv moderner Lebensführung auszumachen. Die Covid-Krise, schreibt Nassehi, halte uns den Spiegel der operativen Komplexität der Gesellschaft vor. Sie „ist keine biologische oder medizinische Krise, keine Naturkatastrophe, ja noch nicht einmal eine gesellschaftliche Krise. Sie verweist darauf, dass die Struktur der Gesellschaft selbst etwas Krisenhaftes trägt.“
Die sich daraus ableitende Krisensemantik, das ist die Pointe des Luhmann-Schülers Armin Nassehi, tauge allerdings nicht dazu, das Problem zu beschreiben. Wer Krise sagt, impliziert deren Vorübergehen, in der Moderne indes ist man gut beraten, sie auszuhalten. Das gesellschaftliche Unbehagen ist demnach nicht zu überwinden, es kennzeichnet lediglich paradoxe Formen der Konfliktbearbeitung. Die Gesellschaft kennt leider keinen Ort, an dem die unterschiedlichen Funktionslogiken nachhaltig aufeinander abgestimmt werden können.
Die Beschreibung systemtheoretischer Zusammenhänge, wie Nassehi sie anbietet, laufen schnell Gefahr, als tautologische Problemverschiebungen wahrgenommen zu werden. Wo einem die Probleme auf den Nägeln brennen, das Klima, die soziale Ungleichheit, sehen Luhmannianer nur Kommunikationen, strukturelle Kopplungen und dergleichen. So gesehen mag die Schlussfolgerung der rund 400 Seiten starken Theorie, dass der Krisenmodus kaum geeignet sei, Krisen zu meistern, in den Ohren kritischer Gesellschaftsbeobachter flüchtig bis ärgerlich erscheinen.
Das BUch
Armin Nassehi: Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. C.H. Beck, München 2021. 385 S., 26 Euro.
Tatsächlich aber verweist Armin Nassehi, hat man sich erst einmal in den Jargon eingelesen, auf ein durchgängiges Muster gesellschaftlicher Problembeschreibung, nach Lösungen in der sogenannten Sozialdimension zu suchen und die Sachdimension außen vor zu lassen. Selbst wo es Lösungen gibt, weiß man nicht genau, was die Frage war. Armin Nassehi indes möchte wissen, was mit einer Gesellschaft passiert, die an sich selbst wahrnimmt, dass sie funktional differenziert, von Zielkonflikten geprägt und ohne ein Zentrum ist, von dem her sich die Teile angemessen anordnen lassen. Nicht selten geht es dabei um die Möglichkeiten der Stabilisierung auf der Basis von Unsicherheit.
Zu den handelsüblichen Sozialpraktiken in Krisen gehören Solidarität, Zusammenhalt und die Berufung auf ein gemeinschaftliches Ganzes, etwa der Staat oder Institutionen, die als ordnende Kräfte auftreten. Aber streng genommen gibt es keine stabile und verlässliche Gemeinschaft. So wurde in der Corona-Krise der Applaus für die Pflegekräfte schnell als leeres Ritual erkannt, und von der anfänglichen Willkommenskultur in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 ist kaum mehr als ein fader Beigeschmack des Scheiterns der integrativen Bemühungen übrig geblieben.
Für Armin Nassehi sind dies Beispiele einer dreifachen Soziodizee, falsch verstandene Versuche, Lösungen in der Gemeinschaft oder im vermeintlichen Überwinden sozialer Zersplitterung zu suchen, obwohl doch die enorme Leistung der Moderne in der fortgeschrittenen Ausdifferenzierung sozialer Systeme besteht.
Der Begriff der Soziodizee stammt von Pierre Bourdieu und ist an dem der Theodizee orientiert, über die danach gefragt wurde, warum Gott insbesondere das Leid rundum guter Menschen herausfordere und zulasse. Wenn indes in der Moderne die Situation eintrete, dass ein zerstörerischer Meteorit auf die Erde zurase, scheint Gott als rettende Instanz weitgehend aus dem Spiel.
Die Frage laute nunmehr, warum die Gesellschaft nicht auf solche schicksalshaften Einschläge vorbereitet sei. An die Stelle des Gottesbeweises sind keine sinnstiftenden Gesellschaftsbeweise getreten. In diesem Sinne ist die stärkste und weithin verbreitete Soziodizee die des gesellschaftlichen Handelns. Dass wir handeln müssen, „meistens endlich“, schreibt Nassehi, „ist gewissermaßen der Schlachtruf aller Gesellschaftsveränderung.“ Die Semantik der Soziodizee verdecke jedoch die Sachdimension der Gesellschaftsstruktur, die als Mangel und Überforderung wahrgenommen werde.
Mit dem Modell der Soziodizee bearbeitet Nassehi beispielsweise die paradoxen und im Kern unergiebigen Konflikte um die sogenannte Identitätspolitik, die unter die Räder des Widerspruchs zwischen universalistischen Zielen mit partikularistischen Praktiken gerate, indem sie in politischer Mission voll und ganz auf das Prinzip der Sichtbarkeit setze. In Bezug auf funktionale Differenzierung sind identitäre Markierungen jedoch störend. „Die Persistenz von Sichtbarkeit schafft und stabilisiert erst die Möglichkeit für Asymmetrisierungen und Diskriminierungen. Es sei daher kein Zufall, dass sich Gesellschaften auf solche Sichtbarkeiten stützen, um Ordnung zu schaffen, um sich einen Reim auf sich selbst zu machen. Aber als Analysekategorie taugt all das nicht.“
Das Unbehagen, dem Armin Nassehi hier eine theoretische Form zu geben versucht – der zugegeben mitunter schwer zu folgen ist –, besteht vor allem darin, dass es kein gesellschaftliches Handeln aus einem Guss und keine Rückkehr zu prästabilierter Harmonie gibt. „Und sosehr man das in bestimmten Situationen beklagt, so sehr ist es vielleicht die zivilisatorische Errungenschaft schlechthin.“
Wenn es bei der Lektüre auch nicht vollständig gelingen mag, sich unfallfrei in der systemtheoretischen Begriffsarchitektur zu bewegen, so bleibt am Ende doch das gesunde Misstrauen als Kategorie der Zuversicht gegenüber einem ubiquitär aufkeimenden Unbehagen, das wieder einmal alles schiefgegangen ist. Es hält offen für die zarten, oftmals verdeckten, gar nicht so seltenen Momente des Gelingens.