Ein Arbeiterkind besinnt sich

"Wir werden erwartet", der vierte und letzte Teil des stark autobiografisch gefärbten Romanzyklus von Ulla Hahn ist erschienen.
Es ist vollbracht: Die Geschichte der Hilla Palm aus Dondorf am Rhein ist zu Ende erzählt. Mehr als zweieinhalbtausend Seiten umfasst Ulla Hahns vierbändiger, stark autobiografisch gefärbter Romanzyklus, der seine Leserinnen und Leser mitnimmt auf eine Reise durch ein Viertel Jahrhundert deutsche Zeitgeschichte. In dieser Woche ist der letzte Band des ehrgeizigen Projekts erschienen: „Wir werden erwartet“.
Hilla, „dat Kenk vun nem Prolete“, die wir 2001 in „Das verborgene Wort“ als lesewütige Erstklässlerin kennengelernt haben, ist erwachsen geworden. Sie hat sich herausgekämpft aus der Enge Dondorfs, weg vom prügelnden Vater, der kein Verständnis hat für den Bildungshunger seiner Ältesten. Weg von der nörgelnden Mutter, die ihr bestenfalls mit Gleichgültigkeit begegnet. Weg von der Verwandtschaft, von den „Quelle“-Katalogen und klein gemusterten Kittelschürzen ihrer Kindheit.
Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte
Ulla Hahn, 1945 in Monheim bei Leverkusen geboren, ist der Mief der 1950er Jahre bestens bekannt. Wie Hilla wächst sie nach dem Krieg in einem bildungsfernen Haushalt auf: der Vater kaum des Lesens und Schreibens mächtig, die Mutter Hausfrau. Mit „de Bööscher“, die das Kind nachts unter der Bettdecke verschlingt, kann keiner von ihnen etwas anfangen. Der Vater schlägt mit dem Hosengürtel zu, wenn er glaubt, die Tochter fühle sich als „jet Besseres“. Ulla Hahn erkämpft sich dennoch das Abitur. Studiert in Köln und in Hamburg Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie. Promoviert über „Literatur in der Aktion“. 1981 erscheint ihr erster Gedichtband. Ihre Hilla-Palm-Romane, daraus macht die Autorin kein Hehl, dienen nicht zuletzt der Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte. „Im Großen und Ganzen sind Ulla und Hilla ziemlich deckungsgleich“, sagte sie einmal im Gespräch. Sie erfahre das Schreiben gerade dieser Bücher zunehmend als Befreiung. Auch wenn sie – „das bitte nie vergessen“ – Romane und keine Biografie schreibe.
Auf „Das verborgene Wort“ folgte erst „Aufbruch“ (2009), dann „Spiel der Zeit“ (2014). In „Wir werden erwartet“ begegnen wir nun einer jungen Frau, der das Leben die ersten schmerzhaften Wunden zugefügt hat.
Besinnung auf die eigenen proletarischen Wurzeln
1969: Es ist die Zeit der Flokati-Teppiche und Mao-Bibeln. Der erste Mensch setzt seinen Fuß auf den Mond. In den WGs wird gekifft, getrunken und über den Weltfrieden diskutiert. An den Wänden auf der Toilette hängen Poster von Che Guevara und Frank Zappa. Auch Hilla beginnt sich nach dem Unfalltod des Freundes politisch zu engagieren: Sie tritt in die DKP ein, die ihr, der Wurzellosen, Heimat zu werden verspricht. „Es war Zeit, dass auch ich mich in den Dienst dieser großen Sache stellte. Und meine Sache, das war: die Freiheit des arbeitenden Menschen, die Gerechtigkeit für ihn und seine Ehre.“ Mehr noch: Das Arbeiterkind besinnt sich zunehmend auf seine eigenen proletarischen Wurzeln.
„Zurück zu meiner Klasse würde ich gehen und ihr zu dem verhelfen, was ihr zustand“, erklärt sie mit dem Pathos der Jugend. „Helfen, ihr den Reichtum zu verschaffen, den ihrer Hände Arbeit schuf.“ Der Marxismus wird für sie zu einer moralischen Instanz, ähnlich dem Christentum. „Das gefiel mir. Verband es mich doch mit dem, was mir von Kind an eingeprägt worden war: Das gehört sich nicht. Aber jetzt: Nicht von Gott befohlen, sondern von Menschen für Menschen.“
Doch der Traum vom großen Miteinander scheitert an der Realität: Genossen erweisen sich als kleinkarierte Ja-Sager, die Parteiparolen als leere Worthülsen. „Wird eine Idee falsch, wenn sie unzulänglich realisiert wird?“, fragt sich Hilla nach einer desillusionierenden Reise in die DDR. Und zieht die einzig mögliche Konsequenz. Sie tritt aus der Partei aus, enttäuscht vom real existierenden Sozialismus. Enttäuscht von den Freunden. Am meisten jedoch enttäuscht von sich selbst. „Unablässig kreiste in mir der Vorwurf, wo ich denn meinen ansonsten so hochgepriesenen Verstand gehabt hätte. Wie konnte ich nur?“
Einer Illusion aufgesessen
Fragen, die sich die Autorin selbst viele Jahre gestellt hat. Ulla Hahn tritt 1971 in die DKP ein. Alte Fotos zeigen sie am Büchertisch des marxistischen Studentenbundes „Spartakus“ in Hamburg. Fünf Jahre später erklärt sie ihren Parteiaustritt, zutiefst ernüchtert „über Personen, mit denen man sich befreundet glaubte, denen jedoch „die gute Sache“ mehr galt als der Mensch und deren Menschlichkeit am Ende buchstäblich in der Sache aufging“. Es sei, gibt sie gegenüber ihrem Verlag zu, wahrlich nicht verlockend, „sich einzugestehen, einer Illusion aufgesessen zu sein“.
Drei Bände habe sie gebraucht, um sich an den entscheidenden vierten „heranzuschreiben“ und sich der Frage zu stellen: „Wie kommt ein Arbeiterkind aus Monheim darauf, Mitglied in der DKP zu werden?“ Heute kennt Ulla Hahn die Antwort. Trotz habe dabei eine Rolle gespielt, sagt sie. „Trotz gegen Menschen und Zustände, die meinem Vater oder meiner Mutter nie eine Chance gegeben, sie klein gehalten hatten. Hier lag die Ursache für meine Hinwendung zum Marxismus: die kleinen Leute groß machen!“
Mit diesem letzten Band des Hilla-Palm-Zyklus’ geht eine großartige literarische Zeitreise zu Ende. Ein weiteres Mal erweist sich die Autorin als kritische Chronistin der jüngsten deutschen Zeitgeschichte: eine scharfsichtige, bisweilen spottlustige Beobachterin, die sich selbst nicht schont. Ulla Hahn entlässt ihre Protagonistin in eine Zukunft als Literatin. Am Schreibtisch hat Hilla ihren Platz im Leben gefunden. Da, „wo ich mich täglich verwandeln kann, mich nicht festlegen muss. Tausend Leben leben kann, in denen das meine verschwindet – und überall wieder auftauchen. In jeder Silbe.“