Antisemitismus in Deutschland: Die, die „unseren“ Jesus ablehnen

Hass gegen Juden ist in Deutschland immer noch ein Thema. Jetzt zeigen drei neue Studien, wie der Antisemitismus das Abendland bis heute begleitet.
Marburg – Woran die Nazis unmittelbar anknüpfen konnten: Drei neue Studien belegen eindrucksvoll, wie Judenhass das christliche Abendland unablässig begleitet hat. Auch der genozidale Krieg Wladimir Putins gegen die Ukraine berührt die Erinnerung an das singuläre Menschheitsverbrechen, das das nationalsozialistische Deutschland an Europas Juden verübt hat.
So wurde in Charkiw der 96-jährige Boris Romantschenko, der Buchenwald und Sachsenhausen überlebt hatte, bei einem Bombenangriff getötet. Gewiss: Dieser Krieg überlagert derzeit beinahe alle anderen Themen, gleichwohl sind in den ersten Monaten dieses Jahres gleich drei neue Bücher zum Thema Judenhass erschienen. Sie widmen sich ihrem Thema aus unterschiedlichen Blickrichtungen, wodurch das Phänomen selbst umso deutlicher in all seinen Dimensionen sichtbar wird.
Hass gegen Juden: „Kritik des Antisemitismus“ als präzise Darstellung von Tehorie und Geschichte
Eine konzise, in jeder Hinsicht bestens informierte Gesamtdarstellung hat der österreichische Antisemitismus- und Rechtsextremismusforscher Andreas Peham unter dem anspruchsvollen Titel „Kritik des Antisemitismus“ vorgelegt. So umfassend das Buch auch ist, so wird man doch fragen dürfen, ob seinem Gegenstand damit nicht zu viel Ehre angetan wird; so assoziiere ich mit dem Begriff „Kritik“ philosophische Grundlagenwerke wie Kants „Kritik der reinen Vernunft.“ Ist eine menschenfeindliche Hassideologie wirklich kritisierbar?
Abgesehen davon ist Pehams Buch jedoch eine stets präzise Darstellung sowohl aller Theorien als auch der Realgeschichte des Judenhasses. So behandelt der erste Teil alle unterschiedlichen Theorien – von funktionalistischen Sündenbocktheorien bis hin zu psychoanalytischen Ansätzen –, um sich dann den Überlegungen Horkheimers und Adornos in deren Schriften „Die Juden und Europa“ sowie „Dialektik der Aufklärung“ zuzuwenden. Dabei fällt auf, dass Peham mindestens die frühen Überlegungen Horkheimers scharf kritisiert, etwa wenn er ihm vorhält, sich antisemitisch angegriffenen jüdischen Unternehmern gegenüber hämisch geäußert zu haben. Und mehr noch: dass Horkheimer den Irrglauben propagiere, nicht der Antisemitismus, sondern die „ökonomische Zweckmäßigkeit“ habe ein Urteil über jüdische Unternehmer gesprochen.
Studie zum Hass gegen Juden: Peham diagnostiziert Frankfurter Schule eine falsche Überzeugung
Derlei Annahmen finden sich – wie Peham überzeugend nachweist – sogar noch in den „Elementen des Antisemitismus“, die seiner Auffassung nach von Horkheimer/Adornos falscher Überzeugung getragen sind, der Kapitalismus sei eine jüdische Erfindung. Zumal dieser Abschnitt von Pehams umfassender Gesamtdarstellung sollte, ja muss gegenwärtig erörtert werden, berührt er doch die Frage eines im weitesten Sinne marxistischen Zugangs zum Thema. Peham selbst orientiert sich an den Überlegungen Moishe Postones, der kapitalistische Gesellschaften vor allem unter dem Gesichtspunkt der Warenabstraktion und des damit verbundenen Fetischcharakters kritisiert hatte.
Dass und wie sich Judenhass auch jenseits der Zirkulationssphäre, im intellektuellen, im akademischen Bereich ausbreiten konnte, belegt die soeben erschienene Aufsatzsammlung des Marburger Historikers Ulrich Sieg, der unter dem Titel „Vom Ressentiment zum Fanatismus. Zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus“ frühere Aufsätze erneut vorgelegt hat: Beiträge, die penibel belegen, wie nicht nur jüdische Akademiker und Akademikerinnen, sondern eine ganze philosophische Schule in Deutschland von Antisemitismus betroffen wurden.
Hass gegen Juden in den 1880er Jahren: De Lagarde gegen deutsche Juden
Das zeigt Sieg nicht nur an einem seinerzeit – Ende der 1880er Jahre in Marburg – geführten Prozess, in dem ein oberhessischer Antisemit und Lehrer der Verächtlichmachung des Talmud angeklagt wurde; ein Prozess, in dem der neukantianische Philosoph Hermann Cohen für die Anklage, der Göttinger Orientalist Paul de Lagarde hingegen für die Verteidigung gutachtete. Am Ende verurteilte das Marburger Gericht den Angeklagten zu einer kurzen Freiheitsstrafe – was de Lagarde (1827-1891) nicht daran hinderte, sich auch weiterhin und aus tiefster Überzeugung heraus gegen die (deutschen) Juden zu wenden.
Die Bücher
Andreas Peham: Kritik des Antisemitismus. Schmetterling, Stuttgart 2022. 240 S., 12 Euro.
Ulrich Sieg: Vom Ressentiment zum Fanatismus. Zur Ideengeschichte des modernen Antisemitismus. EVA, Hamburg 2022. 318 S., 28 Euro.
Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus .... Edit. Telok 2022, 224 S., 14,80 Euro.
So hieß es etwa in seinen – nicht zuletzt von Hitler gelesenen, 1878 publizierten – „Deutschen Schriften“ über die jüdische Minderheit: „Jeder fremde Körper in einem lebendigen anderen erzeugt Unbehagen, Krankheit, oft sogar Eiterung und den Tod. Dabei kann der fremde Körper ein Edelstein sein: die Wirkung wäre dieselbe, wie wenn es ein Stück faulendes Holz wäre. Die Juden sind als Juden in jedem europäischen Staat Fremde, und als Fremde nichts anderes als Träger der Verwesung.“
Judenhass in Akademiker Kreisen: Von Hermann Cohen geprägter Neukantianismus mehr als nur staubige Schulphilosophie
Knapp zehn Jahre später, 1887 forderte dieser Gelehrte, der durch die Bearbeitung der griechischen Fassung des Alten Testaments, der Septuaginta bekannt wurde, in der Schrift „Juden und Indogermanen“ daher die Ausrottung der Juden: „Es gehört ein Herz von der Härte der Krokodilshaut dazu, um mit den armen ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden oder die zu feige sind, dies Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.“
All dem korrespondierte, wie Ulrich Sieg präzise nachweist, das systematische Behindern akademischer Karrieren jüdischer Wissenschaftler bis hin zur Verketzerung des nicht zuletzt von Hermann Cohen geprägten Neukantianismus, der bis weit in die 1950er, 1960er Jahre zu Unrecht als verstaubte Schulphilosophie angesehen wurde.
Antisemitismus-Forschung: Studie von Tarach zeigt eigentlichen Antrieb des Hasses gegen Juden bis in die Gegenwart
Liest man Texte wie die oben zitierten Paul de Lagardes wird man zunächst in der Annahme bestätigt, dass erst ein sich im späten 19. Jahrhundert ereignender Begriffswandel zum modernen Antisemitismus geführt hat, dass also religiös begründeter christlicher Antijudaismus von einem nun historisch oder quasi naturwissenschaftlich begründeten Antisemitismus überlagert, wenn nicht abgelöst wurde. Dass dies tatsächlich nicht der Fall ist, zeigt die Studie von Tilman Tarach, die unter dem Titel „Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus“ erschienen ist.
So hält Tarach etwa der Holocaustforschung vor, die Frage vernachlässigt zu haben, wie weit die Vorstellung jüdischer Ritualmorde ein Stimulans für die Täter der Shoah war. Tatsächlich belegt Tarach die Annahme, dass ein unbewusstes Bild vom Juden, der Christus ablehnt und somit als Bedrohung der eigenen Identität erscheint, der eigentliche Antrieb des Judenhasses bis in die Gegenwart ist. Das zeigt er nicht zuletzt an Analysen vatikanischer und katholischer Zeitschriften aus den 1930er und 1940er Jahren sowie anhand der Äußerungen christlicher „Antizionisten“ im arabischen Raum.
Studie zu Hass gegen Juden: Auch Hitler zehrte vom christlichen Antijudaismus
Mit einer peniblen Analyse von Hitlers Reden kann Tarach zudem nachweisen, wie sehr doch der vermeintlich kirchenfeindliche Hitler vom christlichen Antijudaismus zehrte, so auch Heinrich Himmler bis hin zu einer der herausragenden Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche, Martin Niemöller. Bereits 1920 wurde er Mitglied im antisemitischen „Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund“. Noch 1984 hielt etwa der lutherische Bischof Richard Wagner die Trauerrede für den in Chile verstorbenen Walter Rauff, einen Gruppenleiter im Reichssicherheitshauptamt, der 1942 – seit dem Afrikafeldzug der Wehrmacht – mit der Entwicklung von Vergasungswagen für Jüdinnen und Juden in Palästina befasst war.
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Daher, so Tilman Tarach: „Die These, der christliche Judenhass unterscheide sich grundsätzlich vom rassistisch begründeten, modernen Antisemitismus, mag für eine deutsche Akademiker- oder Kirchenlaufbahn hilfreich sein. Sie erweist sich angesichts der historischen Tatsachen jedoch als Entlastungsstrategie einer christlich sozialisierten Gesellschaft, die es nicht wahrhaben möchte, dass der mörderische Antisemitismus nicht lediglich ein kurzfristiger ,Zwischenfall‘, sondern ein ständiger Begleiter unserer Geschichte war.“ (Micha Brumlik)