Anthony McCarten: „Going Zero“ – Weil sie danach lechzen, bekannt zu sein

„Going Zero“, ein unterhaltsamer und erschreckender Roman des Neuseeländers Anthony McCarten.
Eine Bibliothekarin gegen den Rest der Welt, das ist Anthony McCartens gewiefter Ausgangspunkt für einen rasanten Roman. Streng genommen ist Kaitlyn Day nicht ganz allein, streng genommen ist ihr Gegner nicht der Rest der Welt. Doch immerhin ist es der mächtigste Tech-Konzern, der sich WorldShare nennt und eine Untergesellschaft namens Fusion hat: Fusion führt alle erreichbaren Daten zusammen und wertet sie aus, so dass von jedem beliebigen Menschen ein Profil erstellt werden kann, auch ein psychologisches. Fusion möchte nun einen milliardenschweren Vertrag mit dem US-Geheimdienst schließen, davor aber steht ein „Betatest“: Zehn ausgewählte Menschen sollen alles tun, den „Zugriffteams“ 30 Tage lang zu entkommen, sprich, keinerlei Spur im Netz zu hinterlassen. Man nennt es „Going Zero“. Wer es schafft, sich für Fusions vor allem vor einem Bildschirm sitzenden Häschern gleichsam unsichtbar zu machen, erhält drei Millionen Dollar.
Das Department of Homeland Security hat fünf Laien beziehungsweise Laiinnen und fünf Profis ausgewählt, sie eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben lassen und ihnen schon mal für ihr „vaterländisches Engagement“ gedankt. Aber warum nur eine Bibliothekarin, denkt der große Cy, Chef von Fusion, die haben wir doch gleich. Indessen bereitet sich Kaitlyn Day vor, mit Rucksack, Studentenfutter, Kompass und Zahnpasta, Gaskocher, ach ja, „Anna Karenina“ muss auch mit. Und die Atemschutzmaske, nicht mehr Corona wegen, sondern der vielen Überwachungskameras wegen. Kaitlyn übt, anders zu gehen, als sie sonst geht. Sie trägt einige Schichten Kleidung übereinander, um kräftiger auszusehen. Die Tage vergehen, Cy Baxter wird nervös und tut, was er dann immer tut: seine Angestellten anschreien, derb beleidigen.
Auch für den cholerischen Cy wird der 1961 in Neuseeland geborene Anthony McCarten unschwer Vorbilder gefunden haben. Er und seine Firma sind Goliath, selbstbewusst tritt man gegen David an – die Leserin ahnt, wie es ausgehen wird. Sie hofft, dass es so ausgehen wird.
Doch McCartens Geschichte bleibt auch nach Davids/Kaitlyns Sieg beunruhigend, denn man kann davon ausgehen, dass der Autor gründlich über die neueste Technologie recherchiert hat. Gesichtserkennungssoftware, Ortung mittels Smartphone, viele kleine Spuren, die so unschuldig nicht sind, wie diejenige, die sie achtlos hinterlässt, vielleicht glaubt. Eine der zehn abgetauchten Personen wird Fusion finden, weil die Kamera einer Tanke ihn erfasst, wie er vor seinem Lieblingsbier zögert, wie er vor seinen Lieblingskeksen zögert. Menschen ändern ihre Gewohnheiten nicht, das wissen die Programmiererinnen und Rechercheure von Fusion. Und die KI mit ihrer immensen Rechnerleistung weiß es auch.
Das Buch
Anthony McCarten: Going Zero. Roman. A. d. Engl. v. M. Allié und G. Kempf-Allié. Diogenes 2023. 464 S., 25 Euro.
Eigentlich wollten Cy und seine Partnerin Erika mal das Gute tun: Erikas Bruder wurde von einem Amokläufer getötet, könnte man, so denken sie, „die Bösen“ rechtzeitig herausfiltern, würde das nicht mehr passieren (Stand April 2023 in den USA: 55 Erschossene pro Tag).
„Going Zero“ stellt eine große Frage: Ist es legitim, alle Menschen zu überwachen, um Verbrechen zu verhindern? Und wer passt auf und garantiert, dass die Daten nicht in falsche Hände geraten? Und dass nicht die „richtigen“ Hände diese Daten missbrauchen, wenn sie es für notwendig halten. Wer zieht die Grenze, wo wird sie gezogen. Und bei welcher neuen Technologie wird gesagt: Halt, das darf nicht eingesetzt werden, auch nicht mit guter Absicht. Man denke nur an Drohnen: sie können den Tod bringen, sie können ein Medikament bringen.
Dazu kommt, und McCarten lässt es Cy Baxter erklären, dass die Menschen „ihre Privatsphäre mit Handkuss aufgeben“. „Weil sie nämlich danach lechzen, bekannt zu sein, nicht unbekannt...“. Und vielleicht fühlt man sich tatsächlich weniger einsam, wenn man auf Tiktok ein Tänzchen eingestellt hat und ein paar Leute draufgeklickt haben.
Klar übrigens, dass auch das Schreiben dieses Textes im Netz Spuren hinterlässt, etwa mit den Suchwörtern „Schusswaffentote“ und „USA“. Was würde eine KI daraus schließen?