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Annette Kehnel: „Wir konnten auch anders“ – Mikrokredite und Crowdfunding in uralten Zeiten

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Von: Ewart Reder

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Der Heilige Benedikt mit den von ihm aufgestellten Klosterregeln: Kooperation als Weg zum Erfolg. Wobei die Benediktinerklöster bald auch zum Beispiel problematischer Vermögenskonzentration wurden.
Der Heilige Benedikt mit den von ihm aufgestellten Klosterregeln: Kooperation als Weg zum Erfolg. Wobei die Benediktinerklöster bald auch zum Beispiel problematischer Vermögenskonzentration wurden. © © epd-bild / Alessio Petrucci

Annette Kehnel findet Lösungen für unsere Großkrisen im Mittelalter.

Schon viele haben die Geschichte nach der Zukunft gefragt, Nietzsches Meinung nach zu viele. Meist ging es dabei um Muster der Vergangenheit, die fortgeschrieben und so zu Prognosen wurden. Annette Kehnel, Professorin für mittelalterliche Geschichte in Mannheim, tut in ihrem Buch „Wir konnten auch anders“ etwas anderes. Sie liest vormoderne Phänomene als Alternativen, von denen wir lernen können. Zurück ins Mittelalter? Nein, aber raus aus der Spur eines sich absolut setzenden und dabei selbst zerstörenden Kapitalismus. Überzeugend ist die Argumentation unter anderem, weil die letzten zwei Jahrhunderte das historische Gedächtnis des Westens großenteils gelöscht haben. Das Mittelalter, so Kehnel, war anders als sein Ruf.

Für die Menschen der Vormoderne, so schildert die Historikerin, waren Dinge wie Selbstorganisation, Generationengerechtigkeit und der Beitrag starker, gleichberechtigter Frauen normal. Gendergerechte Sprache findet sich flächendeckend in den überlieferten Zunftordnungen („es sei manne oder frauwe“). Und manchmal braucht es den zweiten Blick: Ablässe werden dann Instrumente von Crowdfunding.

600 Jahre ohne Überfischung

Dass der Bodensee nicht überfischt wurde, beruhte 600 Jahre lang auf freien Übereinkünften von Fischern darüber, wie eng die Maschen ihrer Netze sein durften. Jungfische schlüpften hindurch und konnten sich vermehren. Erst der kapitalisierte Privatbesitz an den Ufersäumen zu Anfang des 19. Jahrhunderts beendete diese Erfolgsgeschichte.

Das Buch

Annette Kehnel: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit. Blessing, München 2021. 488 S., 24 Euro.

Wie kooperiert wurde, zeigt Kehnel unter anderem am Beispiel der Benediktinerklöster. Besitzlosigkeit des und der Einzelnen verband sich mit dem wirtschaftlichen Erfolg und entsprechenden Reichtum des Klosters. „Teilen war der Schlüssel zum Erfolg des Homo sapiens“, resümiert die Autorin.

Minimalismus, die Konzentration aufs Wesentliche, war eine Massenbewegung schon bei den altgriechischen Kynikern. Dem berühmtesten von ihnen, Diogenes von Sinope, war Reichtum nur „die Kotze des Glücks“. Franz von Assisi und die von ihm initiierte Armutsbewegung beeinflussten Gesellschaften nicht nur Europas, sondern auch des Orients. Franziskanische Gelehrte entwickelten Wirtschaftstheorien, die über Preisbildung und den Charakter des Geldes fast alles enthalten, was bis ins 20. Jahrhundert galt.

Im Hochmittelalter entstanden Mikrokreditbanken, bei denen zum Beispiel ein Kleinbauer im Frühjahr seinen Mantel verpfänden und ihn mit dem so finanzierten Ertrag im Herbst wieder auslösen konnte. Die italienischen Großstädte verpflichteten ihre Banker, ehrenamtlich die „Monti di Pietà“ (die frommen Geldberge) zu verwalten. Das vielleicht Überraschendste daran: Die Banker scheinen mitgemacht zu haben.

Die letztgenannten Beispiele zeigen Reaktionen auf die so genannte kommerzielle Revolution, in der sich das Kapitaldenken schon seit dem 11. Jahrhundert herausbildet. Neben reichen Gewinnern gab es von Anfang an massenhaft Verlierer, die Hilfe brauchten – und fanden. Insofern bezeugen Kehnels Studien, wie flexibel man im Mittelalter auf Veränderungen der Großstruktur reagierte. Eben da sieht die Autorin heute ein Defizit. Obwohl sich die Schadensbilanz des Kapitalismus immer monströser zeigt, gelingt ihm kaum echte Veränderung. Nach den Gründen dafür hätte das Buch etwas bohrender fragen können. Eine so extreme Konzentration des Vermögens wie heute gab es historisch jedenfalls noch nie. Und ihre Entstehung kündigt sich bereits an in den Benediktinerklöstern, die zu Großgrundbesitzern wurden, in einem imperialen Papsttum seit dem 13. Jahrhundert, das sich zeitweise besonders auf die Bettelorden und „Reformklöster“ stützte. Der Hebel der Veränderung muss also länger werden, als er in diesem Buch erscheint.

Dass und wie heilsamer Wandel möglich ist, belegt aber niemand klarer als Annette Kehnel. Und das auch noch in einem genussreichen Schmöker.

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