Andreas Kappeler: „Ungleiche Brüder“ – Unter der Knute einer Kolonialmacht

Eine kleine Ukraine-Bibliothek (29): Andreas Kappeler und sein Buch über die lange, schwierige Geschichte Russlands und der Ukraine – „Ungleiche Brüder“.
Der Empfang hätte nicht freundlicher ausfallen können, nicht die Bereitwilligkeit unter den Bedingungen des Krieges, nicht das Entgegenkommen einem Aggressor gegenüber. „Präsident Putin wurde wieder zu Staatsbesuchen eingeladen. So wurde er schon am 24. Juni 2014, drei Monate nach der Annexion der Krim, in Wien von den Spitzen von Politik und Wirtschaft herzlich empfangen.“ Diese „herzlichen“ Gefälligkeiten, die der in Wien lehrende Osteuropahistoriker Andreas Kappeler beobachten konnte, wurden auch von anderen europäischen Regierungen und Unternehmen gepflegt. Putin verstand die Zeichen ihm behilflicher Verhandlungsbereitschaft richtig. Über die Krim hinaus setzte er seinen Krieg auf ukrainischem Territorium im Donbass fort. Die Reaktionen des Westens: bedrohlich für Russland? Nicht doch.
„Ungleiche Brüder“ nannte Kappeler sein Standardwerk über „Russen und Ukrainer“ erstmals 2017. Soeben ist seine Geschichte der beiden Länder „vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ in siebenter Auflage erschienen, wegen Russlands Vernichtungskrieg in einer erweiterten Neuausgabe. Beider Geschichte stellt Kappeler dar als „eine verschränkte Geschichte“, eine der Wechselbeziehungen, „bis heute geprägt von Asymmetrien“. Verstärkt seit dem 19. Jahrhundert, nachweisbar allerdings schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts stießen in einer „patriarchalischen Familie“ zwei „ungleiche Brüder“ aufeinander.
Die „verschränkte Geschichte“ reicht zurück bis ins frühe Mittelalter, bis in die Kiewer Rus. Deren Anfänge, die mit Russland so gar nichts zu tun haben, wurden im Laufe der letzten Jahre von Putin immer wieder geschichtspolitisch annektiert. Als „Gründungsmythos der ukrainischen und der russischen Nation“ beschäftigte die alte Rus Historiker schon vor 250 Jahren. Bei den „nationalen historischen Narrativen“ ging es auf russischer Seite nicht um eine plausible „große Erzählung“, sondern um ideologische Geländegewinne. So hatten die Ukrainer „in diesem Narrativ keinen Platz, sie sind Teil des einheitlichen russischen Volkes und haben keine eigene Geschichte.“ So problematisch es sicherlich ebenfalls ist, wenn ein Exklusivanspruch auf das Erbe der Kiewer Rus durch die Ukraine reklamiert wird – ihre Historiker, allen voran Mychajlo Hruschewskyj (1866-1934) verstanden es, den „hegemonialen russisch-imperialen Diskurs mit einem radikalen Gegenentwurf direkt herauszufordern“.
Dennoch, laut nationaler russischer Legendenbildung ist in diesem „Erbstreit“ die Kiewer Rus stets als Russland, gar als russischer Staat und russische Nation dargestellt worden. Besonders bitter, dass man im „westlichen Ausland weitgehend dem russischen Narrativ“ folgte, ob artig, ahnungslos oder anmaßend.
Der Moskauer Staat der Zaren trat im 15. Jahrhundert nicht die Nachfolge des 1223 (!) untergegangenen Kiewer Reichs an, nicht dynastisch, nicht einmal territorial. Dass die „Ukraina“, untertan verschiedenen Herrschaften, Litauen ebenso wie Polen, im 17. Jahrhundert in eine „verschränkte Geschichte“ mit Russland geriet, gründet in dem Vertrag von Perejaslaw, 1654. Was in Russland bis auf den heutigen Tag als „Wiedervereinigung“ dargestellt wird, wird in der Ukraine als „temporäre Allianz“ begriffen.
Das im 16. und 17. Jahrhundert sich gegen den Westen abschottende Russland sah sich mit einer kulturell weit überlegenen, auf Europa orientierten Ukraine konfrontiert. Seit Peter I., erst recht durch Katharina II. beraubte der russische Reichspatriotismus die Ukraine ihrer Eigenständigkeit, im 19. Jahrhundert ihrer Sprache. Die Ukraine war ausgesetzt einer Kolonialisierung durch die Knute von Autokratie und Orthodoxie. Die dramatisch „verspätete Nation“ Russland unternahm von der Zensur bis zum Terror alles, um den 1830 und 1863 in Polen demonstrierten Freiheitskampf abzutöten. Zehntausende Opfer auch während der Revolution von 1905.
Die Reihe
Eine kleine Ukraine-Bibliothek, nicht chronologisch angelegt, nicht systematisch zusammengestellt, gedacht als Angebot zur Orientierung. Davon ausgehend, dass sich Schauplätze, ob fern oder fremd, durch Bücher von jedem Ort der Welt aus aufsuchen lassen.
Andreas Kappeler: Ungleiche Brüder. Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart. C.H. Beck Verlag, Erweitere Neuauflage 2023. 304 S., 18 Euro.
Zuletzt ins Regal gestellt: Bände zur deutschen Ostpolitik, der Roman „Die Geschichte von Romana“ von Sofia Andruchowytsch, der Roman „Darina, die Süße“ von Maria Matios sowie Tanja Marljartschuks Essayband „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“.
Als Nr. 30 wird die Anthologie „Aus dem Nebel des Krieges“, hrsg. von Kateryna Mishchenko / Katharina Raabe, vorgestellt.
Zwei verspätete Nationen, die 1917/18 die Revolution ausriefen, die in einem entsetzlichen Bürgerkrieg gegen die alten Mächte in Russland und die Mittelmächte in Europa durchgefochten wurde. Der grauenvollste Bürgerkriegsschauplatz überhaupt war die Ukraine, in deren Hauptstadt Kiew die Gewaltherrschaft innerhalb von zwei Jahren nicht weniger als neunmal wechselte. Lenins Sowjetunion, die der Ukraine die Autonomie durch Verträge zusicherte, brach diese Verpflichtungen. Putins Vernichtungskrieg stellt sich in eine Reihe von Vertragsbrüchen. Nicht zu vergessen die Verheerungen, darunter der Holodomor, 1931/32, mit Millionen Hungertoten in der Ukraine.
Kappelers Buch ist ein Lehrbuch, das über Putins Verleumdungen und Fälschungen aufklärt. Einem „imperialen Narrativ der Zarenzeit“ folgend, lautet eine faktenwidrige Fiktion, die Ukraine sei angeblich „voll und ganz und ohne jede Einschränkung von Russland geschaffen“ worden. Ebenso verweist Kappeler die „imaginäre Bedrohung von außen“ ins Reich der „Verdrehungen und Lügen“ durch einen mit „allen Mitteln gegen die Nato und die USA“ kämpfenden ehemaligen „Offizier des KGB“. Ein etwa überzogenes Urteil?
Lange selbst eine „blockierte Staatsbürgernation“, hat das imperiale Russland durch seinen Krieg den „Zusammenhalt der Staatsbürgernation“ Ukraine „gegen den gemeinsamen Feind“ gestärkt. Zweifellos wurden die Erwartungen nicht erfüllt, wonach Wolodymyr Selenskyj als Präsident gegen die „alten Übel“ vorzugehen versprach: die allgegenwärtige Korruption, die mangelnde Rechtsstaatlichkeit.
Doch während in der Ukraine demokratische Wahlen einen Machtwechsel ermöglichten, baute Putin Russland „immer mehr zu einem militärisch repressiven Polizeistaat aus, der einige Merkmale des Stalinismus und Faschismus“ aufweist. Bereits seit 2004 wurde die Eigenstaatlichkeit der Ukraine abgestritten – Propaganda und Geschichtsrevisionismus waren das Feld, auf dem Putin Lüge, Verleumdung und Hetze auffahren ließ. Der Kriegsschauplatz in Syrien konnte ein noch so grauenvoller Schauplatz sein – auch hier sah der Westen teilnahmslos zu (und der Pazifismus weg, ohne mit der Wimper zu zucken).
Putins an den Westen adressierte ultimative Forderung nach Sicherheitsgarantien, die den Rückzug der Nato verlangte, überging dreist das Selbstbestimmungsrecht der Staaten im östlichen Europa. Nicht wenige der Verfälschungen Putins zum Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 folgten denjenigen Stalins bei der Annexion der baltischen Republiken, 1940, des östlichen Polen sowie der Westukraine, 1939. Die jahrelange geschichtspolitische „Gehirnwäsche“ in Russland verweist darauf, „dass der Krieg gegen die Ukraine seit langem geplant war“.
Putins Fehlschlag schlechthin: das Kalkül eines „megalomanen Tyrannen“ auf die Spaltung der Ukraine. Tatsächlich erreichte er eine „beispiellose Einigkeit der ukrainischen Nation“. Damit Putin sein Kriegsziel nicht verfehlt, hat allerdings bei uns eine Solidargemeinschaft „von den Rändern des politischen Spektrums“ sowie eines „unbedachten Pazifismus“ gegen das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ihr Veto eingelegt. Man darf ergänzen: Mit aberwitzigen Belehrungen wird ein (brechtsches) Lehrstück abgeliefert. Ignorant gegenüber der verschränkten Geschichte Russlands und der Ukraine, herzlos, aber brutal narzisstisch.