Allmähliche Plötzlichkeit

Neues Denken in alten Bahnen: Volker Leppin untersucht Martin Luthers mystische Wurzeln.
Von Dirk Pilz
Im kommenden Jahr dann großes Reformationsjubiläum. Es ist zwar unklar, ob es am 31. Oktober 1517 in Wittenberg überhaupt zu einem Thesenanschlag durch Martin Luther kam, wahrscheinlich eher nicht. Aber das Datum hat sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt, also gibt es seit 2007 die „Luther-Dekade“, den veranstaltungsreichen und finanzintensiven Jubiläumsanlauf, und den 31. Oktober 2017 als landesweiten Feiertag.
Dabei mag die fröhliche Geschäftigkeit schnell verdecken, dass heftig umstritten ist, was man unter Reformation überhaupt verstehen soll, wer Luther war, welche Rolle er spielte. War die Reformation ein „Bruch“ mit dem Mittelalter? Ein „Neuanfang“? Oder ein Prozess „allmählicher Transformation“?
Von solcher Transformation spricht der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin. In seinem Aufsatzband mit dem glücklichen Titel „Reformatorische Gestaltungen“ arbeitet er gesellschaftsverändernde, politische und theologische Transformationsgeschichten heraus – und lokalisiert dabei zugleich „Momente des Bruchs“, die eine eigene „Zugkraft“ entwickelt haben. Das meint auch jene Momente, in denen es Luther gelingt, seine Zeit und sein Denken auf den Punkt zu bringen, besonders im folgenreichen Jahr 1520, in dem mehrere der entscheidenden Luther-Schriften erschienen, vor allem „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.
Mit diesem dialektischen Deutungsmodell entwirft er ein Reformationsbild, in dem Luther nicht als „Sondergestalt“, sondern ein uns Heutigen vielfach „fremder“ Mann erscheint. Einer, der seinen Weg innerhalb der spätmittelalterlichen Kultur ging. Einer, der die damals „greifbare Sehnsucht nach vertiefter Spiritualität“ und Veränderung der Kirchenstrukturen aufgegriffen, aber so zugespitzt hat, dass es tatsächlich zu Umbrüchen kam, die bis heute die westliche Landschaft formen. Der große Vorteil dieses Ansatzes ist, dass Leppin damit sowohl den „mittelalterlichen“ als auch den „neuzeitlichen“ Luther zu fassen bekommt.
Das lässt sich gut in seinem eingängig geschriebenen Buch „Die fremde Reformation“ nachlesen. Leppin führt hier zusammen, was er in vielen Aufsätzen unermüdlich nachgewiesen hat: Luthers theologisches Denken wurzelt in der Mystik. Er zeigt die Parallelen zu seinem Lehrmeister Johann von Staupitz, zum Glaubensbegriff bei Johannes Tauler (gestorben 1361), zur Theologie von Augustinus und Paulus. Und er zeigt, dass eine auf Luther konzentrierte Reformationsgeschichte „an den historischen Geschehnissen vorbeigeht“.
Leppin gehört damit zu jenen, die eine theologische Reformationsgeschichtsschreibung betreiben. Damit steht er im schroffen Gegensatz zu Historikern, die von der Theologie eher abzusehen versuchen, zu Volker Reinhardts parallel erschienenem Buch „Luther der Ketzer“ (Beck, 352 S., 24,95 Euro) etwa, das dafür aber Luthers Gegenseite zu konturieren versteht, die Wahrnehmung der reformatorischen Bestrebungen in der römischen Kurie. Oder zu Tillmann Bendikowskis Monographie „Der deutsche Glaubenskrieg“ (Bertelsmann, 384 S., 24,99 Euro), in der Luther zum Stichwortgeber einer unheilvollen Religionskonfliktgeschichte wird, als ob es vor ihm diese Konflikte nicht gegeben und sie sich seitdem nicht verändert hätten.
Aber diese Blicke zeigen nur die große Uneinigkeit über das Phänomen Reformation selbst. Dass der Streit darüber auch ein publizistischer ist – oft genug mit verdeckten Karten –, hat kürzlich die FAZ vorgemacht: Sie ließ Leppins Reformationsbuch von Thomas Kaufmann besprechen. Er warf Leppin vor, „methodische Engführung auf Frömmigkeits- und Theologiegeschichte“ zu betreiben und damit die Figur Luther zu „schrumpfen“. Dass Kaufmann als Kirchenhistoriker in Göttingen ausgemachter Gegner der Transformationsthese und selbst Autor einer (sehr lesenswerten) „Geschichte der Reformation“ (2009) ist, dass er und Leppin seit Jahren sich aneinander abarbeiten, erfuhr der FAZ-Leser nicht.
Auch so wird Deutungskampf um die Reformation geführt. Und es wird offenbar, dass das kulturelle (und nationale) Selbstverständnis auch ein halbes Jahrtausend nach Luther wesentlich daran hängt, wie man die Reformation begreift.