Alina Bronsky: „Barbara stirbt nicht“ – Der alte Knacker in der Küche

„Barbara stirbt nicht“: Alina Bronsky bringt uns dazu, für eine Person Gefühle zu entwickeln, die wir im wirklichen Leben womöglich nicht gut leiden könnten.
Wenn Liebe durch den Magen geht, dann gibt es sehr viel Liebe in diesem Buch. Es geht hier ständig ums Essen. Aber vor allem geht es um Walter Schmidt, einen alten Mann, der sich selbst auf keinen Fall so bezeichnen würde, und der nie gelernt hat, Kaffee zu kochen, weil seine Frau Barbara das immer für ihn tat.
Herr Schmidt, wie er im Erzähltext konsequent genannt wird, ist ein Mann ganz alter Schule. Und so steht er zu Beginn des Romans ratlos in der Küche, weil er nicht weiß, wie viel Kaffeepulver man nehmen muss für die Zubereitung des morgendlichen Heißgetränks. Barbara kann ihn heute nicht umsorgen, weil sie im Bad umgefallen ist und nun im Bett liegt und unendlich müde ist. Dass Barbara nie mehr gesund werden wird, weiß Herr Schmidt an dieser Stelle noch nicht; und auch später, wenn er es wissen könnte und sollte, wird er es vorziehen, sich diesen Umstand nicht wirklich einzugestehen.
Alina Bronsky erzählt ihren neuen Roman ganz aus der Perspektive ihres Protagonisten, der uns möglicherweise unsympathisch wäre, wenn wir ihm im wirklichen Leben begegneten, denn er ist ein rechter Grantler und ein furchtbarer Reaktionär. Und so ist es kein kleines Kunststück, wenn die Autorin es schafft, dass wir das zwar einerseits begreifen, uns andererseits aber dennoch mit dem verbohrten alten Knacker identifizieren und mit ihm mitfühlen – oder besser: für ihn fühlen.
Seine Gefühle: tief verborgen
Das Buch
Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 256 Seiten, 20 Euro.
Denn die Gefühle, die er haben mag, hält Walter Schmidt tief in seinem Inneren verborgen. Vor allem vor sich selbst. Doch als die Ehefrau auf einmal nicht mehr funktioniert wie gewohnt, geschieht zum großen Erstaunen aller, die ihn kennen, Folgendes: Herr Schmidt lernt kochen. Zunächst nur Kaffee, nachdem die Verkäuferin in der Bäckerei ihm erklärt hat, wie viele Löffel er pro Tasse braucht. Dann Kartoffeln. Und schließlich hat er eine Art Erweckungserlebnis, als er im Fernsehen einen Koch entdeckt und nach dessen Rezept ein Omelett zubereitet, das ihm auf An-hieb gelingt. Über die Facebookseite des Kochs findet Herr Schmidt Anschluss an eine aktive Rezept-Community.
Und spätestens in dem Moment, als er dort das Rezept für Borschtsch erfragt, begreifen wir, dass es wahre Liebe sein muss, die ihn dazu treibt. Denn dass Barbara, die rein gar nichts mehr essen will, ausgerechnet nach diesem Gericht verlangt, das er ihr stets zu kochen verboten hat, hat ihm zunächst einen Schock versetzt. Herr Schmidt hasst alles, was an die alte Heimat erinnert, aus der Barbara einst gekommen ist – und nicht nur sie, wie sich später herausstellt. Aber Herr Schmidt will seine Herkunft mit aller Macht verdrängen und bemüht sich nach Kräften, der deutscheste aller Deutschen zu sein.
Während äußerlich Walter Schmidts Kochkünste zunehmen, bröckeln innerlich alte Gewissheiten; ein bisschen. Dass auch Herr Schmidt Deutsch mit russischem Akzent spricht, wahrscheinlich sogar deutlicher als Barbara, würde er nie zugeben – ebenso wenig wie er verstehen will, dass seine Tochter, die mit ihrer „besten Freundin“ zusammenlebt, lesbisch ist. Doch jetzt, da seine Frau krank im Bett liegt, beginnt er sich manchmal zumindest ansatzweise zu fragen, ob er tatsächlich ein so guter Ehemann war, wie er immer dachte. „Er hatte sie nie geschlagen. Oder hatte er auch das inzwischen vergessen? Nein, er war sich sicher.“ Und schließlich unternimmt er etwas, das immense Selbstüberwindung kostet, und versucht im Nachhinein das größte Unrecht, das er Barbara je angetan hat, wenigstens ein Stück weit wiedergutzumachen.
Das literarische Spiel mit der verfehlten Selbsteinschätzung des alten Mannes sorgt für eine zuverlässig humoristische Grundierung des Romans, dessen Handlungsverlauf ja eigentlich tragisch ist. Dass Barbara sterben wird, weiß nicht nur die geneigte Leserin, sondern auch das gesamte Romanpersonal – außer Herrn Schmidt. Doch es geht Bronsky nicht darum, ihn zu „entlarven“ oder seine Läuterung vorzuführen. Vielmehr ist es – wieder einmal – ein mutmachendes Szenario, das sie entwirft. In einer Krisensituation wie dieser zeigt sich nämlich, dass Menschen, wenn sie es nur zulassen, oft über erstaunliche Netzwerke verfügen können, die sie stützen; dass sich auch in extremen Situationen immer noch Momente des Trosts und der Freude finden lassen – und nicht zuletzt, dass es niemals zu spät ist, um sich persönlich weiterzuentwickeln.
Allerdings: Wer diese Barbara als Person eigentlich ist, die doch ganz am Anfang des Buchtitels steht, erfahren wir aus diesem Roman nicht wirklich. Denn dafür hat Herr Schmidt seine Frau offenbar nie gut genug gekannt, und das ist natürlich auch traurig. Auch wenn er jetzt wirklich Borschtsch für sie kocht.