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Agatha Christie „Alibi“: Auf der Flucht in den Sinn

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Von: Arno Widmann

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Die Schauspieler David Niven, Peter Ustinov als Detektiv Hercule Poirot und Bette Davis (v.li.) in dem Film „Tod auf dem Nil“. Foto: epd
Die Schauspieler David Niven, Peter Ustinov als Detektiv Hercule Poirot und Bette Davis (v.li.) in dem Film „Tod auf dem Nil“. © epd-bild/akg-images

Wie Agatha Christie einmal, ganz postmodern, eine Fiktion schuf, indem sie sie zerstörte.

Vor mehr als fünfzig Jahren war ich einmal zu Besuch bei Verwandten. Dort vergrub ich mich in ihre Büchersammlung und las in vierzehn Tagen nichts als Krimis. Ich mag keine Rätselaufgaben. Wenn jemand die Lösung kennt, warum verschweigt er sie mir? Krimiautoren kommen mir immer noch vor wie Lehrer. Wir Leser sind ihre Schüler. Ich finde nichts Spannendes darin, einer bereits bekannten Lösung nachzujagen. Kein Wunder, dass ich in Mathematik eine völlige Niete war. Die Krimis langweilten mich also. Aber es gab nichts anderes zu lesen. Also lag ich auf der Couch und fraß mich durch die meist roten Bände.

Ein Band freilich blieb mir im Gedächtnis. Nein: Plot, Autor und Titel hatte ich völlig vergessen. Aber niemals habe ich meine Verblüffung vergessen darüber, dass der Icherzähler der Mörder war. In Barbara Sichtermanns Buch über Agatha Christie (1890-1976) erfuhr ich den Titel des Buches: „Alibi – Ein Fall für Poirot“. Ich holte es mir und las es. Das fiel mir zunächst nicht leicht. Die Schwerfälligkeit der Dialoge zum Beispiel konnte ich kaum ertragen. Aber das ist natürlich mein Fehler.

Über zwei Milliarden Exemplare der Bücher von Agatha Christie wurden weltweit verkauft! Es gibt oder gab doch Hunderte von Millionen Agatha-Christie-Fans. Ich dagegen bin ganz ungeeignet. Obwohl ich von Anfang an wusste, wer der Mörder ist, kam ich ihr nicht auf die Spur. Ich bin zu doof.

Höflicher ausgedrückt: ungeeignet für das Genre. Aber natürlich bin ich voller Bewunderung für die Idee, den Ich-Erzähler zum Mörder zu machen. Das ist genial. Schließlich gibt es niemanden, dem ein Leser mehr vertraut. „The Murder of Roger Ackroyd“, so der Originaltitel, erschien 1926, im selben Jahr also, in dem Max Brod Franz Kafkas „Schloss“ herausbrachte.

Das Buch:

Agatha Christie: Alibi – Ein Fall für Poirot. Roman. Aus dem Englischen von Michael Mundhenk. Atlantik. 286 S., 10 Euro.

Der Gedanke daran hilft mir, die Dimension der Leistung von Agatha Christie zu erkennen. Der Leser ist ganz und gar angewiesen auf den Erzähler. Er ist sein Gott. So wurde der allwissende Erzähler geboren. Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht ist das Erzählen gerade nicht auf Erfahrung angewiesen. Der Erzähler befindet sich vielmehr auf der Flucht vor ihr, bei der der Leser ihm gerne folgt. Der Krimileser ist einer, der besonders gerne folgt. Je klarer definiert ein Genre ist, desto treuer sind die Gefolgsleute.

Agatha Christie hat das Genre des Kriminalromans noch einmal übersichtlicher gestaltet. Die Hercule-Poirot-Romane haben alle den Anspruch, den Leser mit allen Tatsachen vertraut zu machen und ihn trotzdem im Dunkeln sitzen zu lassen. Die Schlussszene gehört dem Detektiv. Er löst nicht nur das Rätsel, er klärt nicht nur den Mord auf, er erst macht aus der Fülle der Tatsachen eine Geschichte, eine Erzählung.

Es macht den Reiz der Kriminalromane von Agatha Christie aus, dass sie uns zeigt, dass, was für uns unzusammenhängende Beobachtungen sind, einen Sinn ergeben. Das Gefühl, dass, richtig zusammengesetzt, selbst unser Leben einen haben könnte, ist möglicherweise einer der Gründe für ihren Erfolg. Dass die Bücher nicht „schön“ geschrieben sind, rückt nicht nur sie, sondern auch ihre Verheißung, alles ergebe einen Sinn, uns in eine glückliche Nähe.

Den Ich-Erzähler, also den, der für gewöhnlich Transportmittel und Medium, ja Garant dieses identifikatorischen Glücksgefühls ist, als Mörder entlarven zu lassen durch eine von ihm geschilderte Figur, ist ein Verfassungsbruch.

Agatha Christie geht noch einen Schritt weiter. Der Ich-Erzähler, er heißt Dr. Sheppard, ist bei fast allen Aktionen Poirots dabei. Der erzählt ihm, was er in Erfahrung gebracht hat. Als Hercule Poirot Sheppard sagt, wie sehr er bedaure, dass sein Freund nicht da sei, der immer fleißig mitgeschrieben habe und oft sei ihm ein Fall erst bei der Lektüre von dessen Aufzeichnungen klar geworden, da erklärt ihm Sheppard, auch er habe sich Aufzeichnungen gemacht und übergibt Poirot zwanzig Kapitel des „Romans“, den der Leser in Händen hält.

Poirot weiß definitiv nicht mehr als der Leser. Der Roman selbst spielt die zentrale Rolle in ihm: ist das Mittel seiner Aufklärung. Selbstreflexiver, postmoderner geht nicht. Außerdem – darauf komme ich erst jetzt – führen uns Agatha Christies Krimis vor: Die Akkumulation von Tatsachen, so wichtig sie ist, führt allein nicht zur Erkenntnis. Für die bedarf es eines Paradigmenwechsel. Erst der ordnet die Tatsachen so, dass sich ein Sinn ergibt. Dazu bedarf es des Überblicks, der sich erst einstellt, wenn es gelungen ist, die wie Quanten hin und her hüpfenden Tatsachen in eine große Erzählung einzubinden. Sie schafft den nötigen Abstand. Also genau die Entfernung, bei der sich alles erschließt. Es ist ein riesiges Vergnügen, Agatha Christie dabei zuzuschauen, wie sie eine Fiktion schafft, indem sie sie zerstört.

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