1. Startseite
  2. Kultur
  3. Literatur

Abdulrazak Gurnah: „Ferne Gestade“ – Geschichten, die sich uns entwinden wollen

Erstellt:

Von: Sylvia Staude

Kommentare

Abdulrazak Gurnah am Tag, an dem er den Nobelpreis gewann.
Abdulrazak Gurnah am Tag, an dem er den Nobelpreis gewann. © AFP

„Ferne Gestade“, Abdulrazak Gurnahs schattierungsreicher Roman über viel mehr als ein Leben im Exil.

Er ist alt für einen Asylbewerber, Mitte 60, Rentenalter in Großbritannien. Aber als er erfährt, dass man ihm wohl Zuflucht gewährt, wenn sein Leben bedroht ist, sieht er nur den Weg, diesen Neubeginn zu versuchen. „Dies hier ist etwas für junge Männer, dieses Asyl-Spiel“, sagt Kevin Edelman zu ihm, Beamter am Flughafen Gatwick, „denn es geht doch eigentlich nur darum, in Europa Arbeit und Wohlstand zu finden, oder? Da geht es doch nicht um Moral, sondern nur um Gier.“ Edelman redet viel, obwohl er davon ausgehen muss, dass sein Gegenüber, „Mr. Shabaan“, ihn nicht versteht. Shabaan hat geschwiegen, seit sein Flug in London gelandet ist, so getan, als könne er kein Englisch, denn so lautete der Rat des Mannes, der ihm das Ticket besorgt hat. Nur zwei Wörter sagt er schließlich: „Flüchtling“ und „Asyl“.

Edelman gibt auf, holt einen Stempel, stempelt den Pass; eine gewisse Rachel Howard mit ihrem „inbrünstigen Lächeln“ bringt Shabaan zu einem Aufnahmelager, bald in eine Pension, dann erhält er sogar eine eigene kleine Wohnung in einem Ort am Meer. Das wird mir gefallen, denkt er.

„By the Sea“, am Meer, heißt Abdulrazak Gurnahs 1994 im englischen Original erschienener Roman, der jetzt, dank des Nobelpreises für Gurnah im vergangenen Jahr, nach 2002 erneut auf Deutsch herausgekommen ist mit dem seltsam altertümelnden Titel „Ferne Gestade“ – das trotz zupackender, bisweilen scharfer Sprache innendrin, trotz verzweifeltem Spott und Drastik, etwa, was elende Gerüche und Dreck in englischen Häusern betrifft. In einer „editorischen Notiz“ erklärt der Penguin-Verlag, dass die „nicht beschönigende Übersetzung“ (von Thomas Brückner) zur Charakterisierung der Figuren gehöre, was ja auch stimmt.

Die Figuren, das sind vor allem die beiden Ich-Erzähler, durch die alle anderen gespiegelt sind. In deutlich mehr als der Hälfte des Romans berichtet der in England Asyl suchende Rajab Shabaan – es ist freilich nicht sein echter Name, wie er gleich verrät, ohne dass die Leserin vorerst den richtigen erfährt. Zwischendrin erzählt ein gewisser Latif Mahmud, der mit nur 17 Jahren in die DDR ging, um Zahnmedizin zu studieren, der jetzt in London an einer Uni lehrt und gelegentlich als Dolmetscher aushilft. Darum bittet ihn Rachel auch wegen „Mr. Shabaan“, um ihm schon kurz darauf auf den Anrufbeantworter zu sprechen, dass es sich erledigt habe. Monate später wird Latif Mahmud „Mr. Shabaan“ dennoch in dessen Wohnung am Meer aufsuchen, denn er heißt eigentlich Ismail Rajab Shaaban Mahmud und möchte schon wissen, ob dieser Mann zufällig wie sein Vater heißt oder sich den Namen seines Vaters angeeignet hat.

Das Buch

Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade. Roman. A. d. Engl. v. Thomas Brückner. Penguin, München 2022. 416 S., 26 Euro.

Was als Roman über einen späten Asylbewerber aus Tansania (bis 1964 aus Sansibar) beginnt, der nun in England das „Halbleben eines Fremden“ führt, der dort „nervös und verkrampft“ durch die Straßen geht, sich tröstet mit ausführlichen Besuchen im Möbelhaus – ja, tatsächlich Möbelhaus, denn in seiner Heimat war er Händler auch mit exquisiten Möbeln -, diese Geschichte wird von Gurnah schon bald raffiniert verzahnt mit einem ausführlichen Rückblick des Flüchtlings, zwischendrin Rückblicken des deutlich jüngeren Latif. Dieser hat bereits eine böse Ahnung, ehe er „Mr. Shabaan“ trifft, wer dieser sein könnte. Er erinnert sich, dass er einst von seinen durch einen gewissen Saleh Omar aus dem Haus geworfenen Eltern wegen eines Ebenholztischchens zu diesem geschickt wurde, er sollte wenigstens das eine Möbelstück zurückverlangen. Und erhielt es nicht.

Die Lebenslinien dieser beiden Männer kreuzten sich also einst, ohne dass man viel miteinander zu tun hatte. Es versteht sich von selbst, dass Omar und Mahmud von unterschiedlicher Perspektive aus erzählen, dass sie sicherlich hier und da beschönigen, womöglich flunkern: „Kann ein Ich je von sich sprechen, ohne sich ins Heldenhafte zu übersteigern“, überlegt Omar/Shabaan. Gurnah verzichtet auf eine übergeordnete Instanz, sieht keinen Anlass, der Leserin, dem Leser durch die Eindeutigkeit eines zusätzlichen auktorialen Erzählers die Entscheidung leichter zu machen, wer von beiden näher an der Wahrheit ist. Warnt vielmehr, durch eine Nebenfigur: Geschichten „gleiten uns durch die Finger, verändern ihre Form, wollen sich uns entwinden“. Diese jedenfalls verändert ihre Form, mäandert, droht einem zu entgleiten, wenn man nicht verflixt gut aufpasst.

Dabei ist dem Autor, der in Sansibar wie seine Figur Saleh Omar zur arabischstämmigen Minderheit gehörte, aber bereits 1968 nach Großbritannien flüchtete, gewiss bewusst, dass sein westliches Publikum sich auf dünnem (Deutungs-)Eis fühlen muss. Zu Recht ist es ihm egal. Hat sich Omar wie ein Schuft verhalten, als er gegenüber Latifs Vater auf der Bezahlung des Schuldscheins bestand, was dieser nicht konnte? Muss man Verständnis dafür haben, dass Rajab Shabaan (der echte) sich an Omar rächt, als die politischen Verhältnisse sich ändern? Und wer schaute dort auch ohne spezifischen Groll wegen welcher Abstammung und welcher Hautfarbe auf wen herab?

„Ferne Gestade“ ist ein hochkomplexer, schattierungsreicher Roman über die Verheerungen des Kolonialismus, in dem die Dinge aber nur schlimmer werden, als die Briten abziehen, „ziemlich plötzlich, überstürzt und irgendwie bockig“. So schlimm, dass schließlich sogar ein 65-Jähriger nach vielen Jahren als politischer Gefangener noch ins kalte England flüchtet, denn etwas Besseres als den Tod wird er dort allemal finden. Rassisten gibt es, klar, die natürlich beteuern, keine Rassisten zu sein. Menschen, deren Verachtung er spürt. Aber es gibt auch friedliche Möbelhäuser (irgendwann kennen die Angestellten ihn, lassen ihn in Ruhe) und junge, höfliche Frauen, die es gut meinen, und ihn an die Tochter erinnern, die er nur kurze Zeit hatte. Dann holten ihn die Schergen des gerade aktuellen Regimes ab und er erfuhr nicht einmal, dass Frau und Tochter starben.

Das Ebenholztischchen übrigens hätte er zurückgeben sollen, aber damals war er „eben nicht klüger“.

Auch interessant

Kommentare