400. Geburtstag von Fabeldichter La Fontaine: Von Tieren, von Menschen und von der Angst

Vor 400 Jahren wurde der Fabeldichter Jean de la Fontaine geboren.
Am 8. Juli 1621 wurde Jean de la Fontaine geboren. Wir kennen ihn alle. Seine kurzen Geschichten vom „Wolf und vom Lamm“, von der Stadt- und von der Feldmaus, vom Raben und von dem Fuchs. Wir lasen sie das erste Mal in Büchern mit dicken, abwaschbaren Einbänden. Zu jeder Geschichte ein Bild. Und es waren kaum mehr als ein Dutzend.
Später entdeckten wir, dass La Fontaine, gestorben 1695, an die 250 Fabeln schrieb. Alle eilen in wenigen Zeilen auf eine Pointe zu. Es sind heitere Geschichten, in denen der Wolf dem Hund mitteilt, er sei lieber frei als wohlgenährt, oder der Delfin den Affen rettet, weil er ihn mit einem Menschen verwechselt. Irrtümer spielen eine große Rolle in den Fabeln La Fontaines. Schließlich sollen sie uns davon abhalten, sie selbst zu begehen. Der Text zielt über den Text hinaus auf den Menschen, der ihn liest. Nicht nur auf dessen Anschauungen, sondern mehr noch auf sein Verhalten.
La Fontaine ist ein Zeitgenosse des „Moralisten“ François de La Rochefoucauld (1613-1680). Dessen Aphorismen lesen sich, als wären sie geschrieben von einem La Fontaine, der auf die Fabel, den Plot verzichtet und nichts bietet als „die Moral der Geschichte“. Puristen lieben das. Aber La Fontaine hat das große Publikum erobert und überzeugt es seit fast 400 Jahren. Zugleich gilt er als einer der bedeutendsten französischen Autoren. Er wurde vier Jahre nach Shakespeare und Cervantes geboren. Dieser Hinweis klingt in deutschen Ohren etwas deplatziert. Als verrücke man die Maßstäbe.
In Frankreich aber liest man La Fontaine anders. Hippolyte Taine schrieb 1888: „La Fontaine ist unser Homer. Denn vor allem ist er universal, wie Homer es war: Menschen, Götter, Tiere, Landschaften, die ewige Natur und die Gesellschaft der Zeit, alles steckt in seinem kleinen Buch. Bauern sind darin und daneben Könige, Dörflerinnen neben den großen Damen. Jeder in seinem Leben mit seinen Gefühlen, mit seiner Sprache. Kein noch so winziges Detail des menschlichen Lebens wird ausgespart, um die Geschichte knapper zu machen. Und doch ist die Erzählung so ideal wie die Homers.“
Taine täuscht hier darüber hinweg, dass La Fontaine gerade kein Epos ausbreitet, nicht eine Geschichte erzählt mit all ihren Verästelungen in die höchsten und niedrigsten Kreise hinein. Taine hat dennoch recht, darauf hinzuweisen, dass aus den einzelnen Geschichten doch so etwas wie ein großes Panorama entsteht, ein Bild der Welt.
Der Vers der französischen Klassik, der Alexandriner, spielt eine große Rolle bei La Fontaine. Paul Lindau schreibt (vor dem Ersten Weltkrieg) in seinem Vorwort zur Übersetzung durch Ernst Dohm: „Am bewundernswertesten ist die Kunst, mit der Dohm den steifbeinigen Alexandriner behandelt. Dieser hartmäulige Gaul, der alle sechs Schritt vor der Cäsur stehen bleibt und bockt, galoppiert und trabt hier fröhlich daher, ganz nach dem Gefallen des kundigen Reiters. Gerade wie Lafontaine versteht es der Übersetzer, die metrische Cäsur durch das Sinnliche zu verdecken, und in den Vers einen ganz unerwarteten Rhythmus, eine lebhafte Bewegung hineinzubringen.“ Mit dem Alexandriner ist, wenn man das so sagen darf, für das Erhabene gesorgt. Die ganze Arbeit des Dichters besteht darin, den Vers zu necken. So ist von Anfang an, noch vor jeder Wortbedeutung, das Augenmerk auf das Verhältnis von oben und unten gelenkt. Das Hofzeremoniell, der hohe Ton ist immer da, aber als einer, um den herum gezwitschert wird, der zwar angeben, aber doch das Tempo nicht vorgeben darf.
Aber ich muss jetzt endlich auf das kommen, was die Fabel ausmacht: die Tiere. Hier unterhalten sich nicht Molière und Racine mit La Fontaine, sondern Elstern und Pfauen, Fisch und Fischer, Pferd und Hirsch, Fuchs und Bock, Wolf und Storch, Löwe und Ratte, Hase und Frösche, ja sogar ein Ton- mit einem Eisentopf.
Die Damen und Herren der Welt Ludwig des XIV. haben ihre Perücken, ihre menschliche Gestalt abgelegt und sind zu Tieren geworden. Nicht ganz und gar. Sie sind deutlich zu erkennen, und man kann sich nicht vorstellen, dass andernorts zu einer anderen Zeit mit so leicht hingetuschten, formvollendeten Formulierungen Menschen miteinander konversiert haben, wie es die Tiere bei La Fontaine tun. Es macht den Reiz seiner Geschichten aus, dass man immer beides vor Augen hat: das Tier und den Menschen. Dass man beides hört. Wir lernen durch Nachahmung. Durchs Karikieren, könnte man sagen. Der schlaue Fuchs, der die Eitelkeit des Raben ausreizt, um an das Stück Käse zu kommen, das der im Schnabel trägt. Das ist alles nicht zuletzt darum so amüsant, weil die Wirklichkeit keine Rolle dabei spielt. Wo haben je Fuchs und Rabe um ein Stück Käse gestritten? Der Größte hadert mit dem Kleinsten. Die Naturgesetze sind ausgehebelt. Es ist ganz klar: Dieser Erzähler würde für einen Gag alles machen. Was heißt Gag? Schon das Bocken nach jedem sechsten Schritt will gekonnt sein.
Wir haben gelernt, La Fontaines Fabeln zu entschlüsseln, sie zu beziehen auf Ereignisse bei Hofe oder in den Salons. Wir wissen sie politisch und moralisch zu lesen. Wir wurden instruiert, sie aus dem Tierreich wieder in die menschliche Gesellschaft zu übersetzen. Wir haben amüsiert zur Kenntnis genommen, dass La-Fontaine-Experten in seinen Fabeln 32 versteckte Anspielungen auf Ludwig XIV. entdeckt haben wollen, von denen nur zwei positiv zu verstehen seien. Kein Wunder, dass der Sonnenkönig sich immer wieder von ihm abwandte und sogar zu verhindern suchte, dass er, einer der erfolgreichsten Autoren Frankreichs, in die Akademie aufgenommen wurde. Wir wissen das Vergnügen zu schätzen, hinter den Tieren die Menschen zu erkennen.
Aber es gibt eine andere Seite der Fabel. Sie wirft doch auch die Frage auf nach der Größe des Unterschieds von Mensch und Tier. Wie viel Tier steckt im Menschen? Das wurde damals heftig diskutiert, nicht nur in Büchern und Pamphleten, sondern auch im Salon der Marguerite Hessein de La Sablière (1636–1693). Zwanzig Jahre lang finanzierte sie La Fontaine. Sie machte selbst physikalische und chemische Experimente. In ihrem Salon trafen sich Wissenschaftler und Literaten. Es ging in den 1670er Jahren vor allem um ein Thema: Sind Tiere Maschinen oder haben sie Empfindungen, können sie gar denken? Descartes hatte erklärt, wer einem Hund Empfindungen zuspreche, der könnte das ebenso gut auch bei seiner Uhr tun. Man kann sich vorstellen, wie eine solche Auffassung einschlug in den Salons, in denen es wimmelte von gehätschelten Schoß- und Jagdhunden.
La Fontaine schrieb 1675 den „Discours à Madame Sablière sur l’âme des animaux“, ein kurzes Gedicht, in dem er sich weitgehend dem Einwand des Materialisten Pierre Gassendi anschloss, der erklärte, beim Menschen handele es sich um nichts anderes als ein komplizierteres Tier. Beide hätten Seele und Verstand. In unterschiedlichen Ausmaßen.
So gesehen lesen sich La Fontaines Fabeln noch einmal anders. Wir haben es nicht mit als Tieren maskierten Menschen zu tun (jedenfalls nicht nur), sondern mit einem Blick auf die Schöpfung – wenn dieser Ausdruck gestattet ist -, der deren Kontinuität hervorhebt, der nicht arbeitet an der Herauspräparierung eines Sonderstatus für den Menschen, sondern ihn einbettet in die Naturgeschichte. La Fontaine macht das augenzwinkernd und bester Laune. Mit jener Leichtigkeit, um die er immer wieder beneidet wurde.
Die Fabeln sind ja zumeist nicht seine. Er fand sie beim griechischen Dichter Äsop (6. Jahrhundert v. u. Z.), beim Römer Phädrus und an anderen Orten. Er bearbeitete die alten Stoffe mit jener vergnügten Beharrlichkeit, die einen das Genie, das er dafür hatte, oft übersehen lässt.
La Fontaine schrieb außerdem Erzählungen, Theaterstücke, Libretti, Gedichte und den Roman „Die Lieben von Psyche und Cupido“. Auch hier gab es ein Vorbild, das er nur nutzen musste. Aber dieses Buch, schreibt er, habe ihm größere Schwierigkeiten bereitet als all die anderen, das er geschrieben habe. Das Vorwort zeigt ihn als einen Autor, der sehr genau weiß, dass es auf jedes Wort ankommt, auf jeden Ton, und dass der in der Prosa manchmal schwerer zu treffen ist als im Vers.
Es gibt viel zu entdecken bei La Fontaine. Man könnte auch dem Hinweis Marc Fumarolis folgen, der in seinem Buch „Le poète et le roi – Jean de la Fontaine en son siècle“ (1997) erklärt: Als der 23-jährige Ludwig XIV. am Montag, den 5. September 1661, durch den Musketier d’Artagnant den Freund und Förderer La Fontaines, den übermächtig gewordenen Nicolas Fouquet, verhaften und auf eine Festung bringen ließ, machte er La Fontaine zu dem Dichter, als den wir ihn heute kennen. Erst nach diesem Schock, diesem Gründungsakt des Absolutismus, schrieb La Fontaine seine Erzählungen, die ersten Fabeln und die „Amours de Psyché et Cupidon“.
Vielleicht glaubte er, aus dem, was er zu sagen hatte, eine Flaschenpost machen zu müssen, Poesie. In Wahrheit aber entdeckte er erst, indem er das tat, was er zu sagen hatte.