100 Jahre Nobelpreis für Knut Hamsun – Ohne Segen der Erde

Vor hundert Jahren wurde Knut Hamsun der Nobelpreis für Literatur zuerkannt: eine fragwürdige und folgenreiche Ehrung.
Am 12. November 1920 meldeten die Zeitungen die Entscheidung der Schwedischen Akademie: Knut Hamsun wurde der Nobelpreis für Literatur zuerkannt. Dass seine deutsche Schriftstellerkollegen die Nachricht positiv aufnahmen, ist eine Untertreibung. Thomas Mann fand, die Wahl sei „nie auf einen Würdigeren“ gefallen, und auch Hermann Hesse, Stefan Zweig, Kurt Tucholsky äußerten ihre große Zufriedenheit. Tucholsky bekannte, Hamsun sei für ihn „wirklich der Allergrößte“.
Heute klingt das seltsam fern, und nicht nur, weil hundert Jahre vergangen sind. Es ist in Deutschland um Hamsun, der einst zu den am meisten gelesenen ausländischen Autoren gehörte, seit langem still geworden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Werk geht weiter, aber dem lesenden Publikum scheint Knut Hamsun fremd geworden zu sein.
Sehr deutlich wurde das 2009, dem Jahr seines 150. Geburtstags. Die Buchhandlungen verzeichneten keine verstärkte Nachfrage nach Hamsuns Werken, und auch in der deutschen Verlagswelt konnte von einem Hamsun-Jahr keine Rede sein. Claassen und dtv brachten immerhin den Erstlingsroman „Hunger“ neu heraus, dtv in Großdruck – offenbar dachte man an Leser über siebzig. Die neue zweibändige Hamsun-Biografie von Ingar Sletten Kolloen fand, für den ausländischen Markt um die Hälfte gekürzt, in Deutschland erst einen Verlag, als sie schon in acht andere europäische Länder verkauft war. Einige große Tageszeitungen erinnerten am 4. August an den Jubilar, die „Zeit“ dagegen fand ihn nicht erwähnenswert. Von etwa 250 Studierenden einer Fachhochschule, die in den vergangenen fünfzehn Jahren an norwegischen Sprachkursen teilnahmen, hatte niemand den Namen Hamsun je gehört.
Dieses Desinteresse fiel vor allem dem auf, der das Hamsun-Jahr in Norwegen verfolgte. Die Büchereien liehen doppelt so viele Hamsun-Bücher aus wie sonst. Die erwähnte Hamsun-Biografie war ein großer Erfolg. Und mit einer Fülle von Veranstaltungen gedachte das Land seines größten Erzählers, wobei Hamsuns Lebensorte im Mittelpunkt standen. In der Inselgemeinde Hamarøy am Polarkreis, wo er prägende Kindheits- und Jugendjahre verbrachte und in seinen Fünfzigern einige Jahre lang einen Hof führte, wurde am 4. August ein „Hamsunsenter“ eröffnet, das künftig Mittelpunkt der Pflege des Hamsun-Erbes sein soll.
Aber zugleich legte das Gedenkjahr offen, wie Hamsun die Nation immer noch spaltet. Die Zeitung „Aftenposten“ erinnerte an „die zentrale Verräterrolle, die er während der Besatzungszeit sich selbst zuwies und die immer mit seinem Namen verbunden bleiben wird“. Der Intendant des Trondheimer Theaters erklärte sein Haus zur hamsunfreien Zone und empfahl, vor jedweder Hamsun-Feier noch einmal des Dichters Nekrolog auf Hitler nachzulesen, von dem er sich eine immunisierende Wirkung versprach.
Dies nachzuvollziehen fällt nicht schwer. Hamsun pries Hitler als einen „Verkünder des Evangeliums vom Recht aller Nationen“, als eine „reformatorische Gestalt höchsten Ranges“. Dass der König das Hamsun-Zentrum eröffnen könnte, war allein wegen dieser monströsesten Manifestation der politischen Verirrung des Dichters unvorstellbar, es hätte viele der noch Lebenden aus der Kriegsgeneration verstört. Kronprinzessin Mette-Marit war für die Aufgabe gerade noch tolerabel. Aber es gab auch den Literaturwissenschaftler, der betonte, Hamsuns Eintreten für Hitler und das Nazi-Regime habe sich nur in seinen politischen Artikeln niedergeschlagen und „nichts in Hamsuns Romanen“ berechtige dazu, ihn „als Nazi abzustempeln“.
So kontrastierten im Gedenkjahr Engagement und Streit in Norwegen mit dem lauen Interesse der Deutschen. Ein Versuch, dieses zu erklären, muss bis ins Jahr 1920 zurückgehen und die Umstände der Preisverleihung genauer betrachten.
Hamsun war schon vor 1920 ein Kandidat gewesen. Der Rang von „Hunger“, „Mysterien“, „Victoria“ und „Pan“ war unstrittig. Aber einer Ehrung stand im Wege, dass der Preisstifter Alfred Nobel verfügt hatte, es solle ausgezeichnet werden, wer „das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat“. Hamsun war der Akademie nicht idealistisch genug. Der 1917 erschienene Roman „Segen der Erde“ hingegen genügte nun endlich Nobels Forderung. Die Erzählung von Isak, der in der Einöde Land urbar macht und es mit den Seinen im Laufe von Jahrzehnten durch seiner Hände Arbeit zu bescheidenem Wohlstand bringt, führte eine Welt vor, in der „ein Zusammenhang und ein Ziel“ sichtbar wurde. Die Ehrung gerade dieses einen Werks bedeutete in der noch jungen Geschichte des Preises zugleich ein Novum, denn alle bisher Geehrten waren für ihr Gesamtwerk oder jedenfalls große Teile des Werks ausgezeichnet worden. Zudem, folgenreich für die Hamsun-Rezeption, war es die Hervorhebung des einzigen seiner Romane, der eine „positive“ Botschaft vermittelt.
Hamsun verdankte seinem deutschen Publikum den internationalen Durchbruch – was sicher weitgehend seine Haltung zu Deutschland erklärt, an der er über die politischen Umbrüche hinweg unbeirrt festhielt. Seit der Übersetzung von „Hunger“ 1891 war sein Name den literarisch Interessierten ein Begriff. Mit „Segen der Erde“ wurde er nun einem größeren Publikum bekannt, aber das bewirkte zugleich eine folgenreiche Unwucht der Rezeption. Kritik und Literaturwissenschaft nahmen durchaus das ganze Werk wahr, aber am populärsten wurde nun der untypischste seiner Romane. Dass Knut Hamsun zu Recht den Nobelpreis erhielt, ist keine Frage. Fragwürdig ist, dass er ihn für „Segen der Erde“ erhielt.
An der Erde zu arbeiten, ihr etwas abzuringen, ist im Roman etwas Gutes. Im deutschen Sprachraum wurde diese Botschaft verstärkt durch die Übersetzung des Titels. Sie schreibt ihm eine religiöse Dimension zu, die im Original fehlt. Das norwegische Wort „grøde“ hat mit Segen nichts zu tun, es meint einfach den Ertrag, die Feldfrüchte. Dem Lob der Landarbeit steht die negative Sicht auf die Stadt gegenüber. Wer sich der Stadt anheimgibt, verfehlt das richtige Leben. Mit diesem doppelten Signal beeinflusste „Segen der Erde“ die rechtsgewirkte, industrie- und zivilisationskritische deutsche Heimatliteratur der 20er und 30er Jahre.
Dabei gilt: Nur wer oberflächlich liest, kann in „Segen der Erde“ eine heile Welt finden; er verkennt das Hintergründige des Romans, die Komplexität der Charaktere, die raffinierte, den Leser immer wieder verunsichernde Handlungsführung. Aber selektives Lesen machte den Roman für die nazistische Ideologie anschlussfähig. NS-Literaturkritiker sahen in ihm ein idealtypisches Werk der Blut-und- Boden-Literatur. Chefideologe Alfred Rosenberg machte Isak zum schönen nordischen Menschen schlechthin – eine Lesart, die einiger Anstrengung bedurfte, ist der Held doch „Isak mit dem rostigen Bart und dem zu untersetzten Körper, er war wie ein gräulicher Mühlgeist“.
Im Krieg machte „Segen der Erde“ noch mehr Karriere. Zu einem Bauernroman verengt, wurde das Buch einem anderen norwegische Bauern idealisierenden Roman an die Seite gestellt, Trygve Gulbranssens „Und ewig singen die Wälder“, der 1933 auf deutsch erschienen war. Bezeichnenderweise wurde auch dieser Titel in der Übersetzung „erhöht“, denn im Norwegischen steht für „ewig“ schlicht „hinten“. Goebbels sorgte für billige Frontbuchausgaben. Zwei Bauernromane sollten bei den in Norwegen stationierten deutschen Soldaten Sympathie für das besetzte Land wecken (dessen Bevölkerung ja im Sinne der NS-Rassenideologie „arisch“ war).
In der Heimat wirkte derweil Hamsuns Frau Marie für „Segen der Erde“. In vier Kriegswintern bereiste sie, eingeladen und hofiert von der Nordischen Gesellschaft, deren Schirmherr Alfred Rosenberg war, das Großdeutsche Reich. Bei mehr als hundert Auftritten von Tilsit bis Karlsruhe, von Kiel bis Wien überbrachte sie Grüße von Knut Hamsun und las, dabei wenig variierend, vor durchschnittlich 500 Menschen aus Hamsuns Werken. „Die Hauptnummer waren die ersten Kapitel in ,Segen der Erde‘“, so berichtet Thorkild Hansen in seinem Buch „Der Hamsun-Prozeß“ und charakterisiert diese Auftritte als Feiern, bei denen Marie als „Priesterin“ und das Publikum sich dem großen Dichter Knut Hamsun andachtsvoll hingaben. Der Einödhof enthob sie für zwei Stunden dem Kriegsalltag.
Die Hamsun-Verehrung in Deutschland endete mit dem Jahr 1945 keineswegs. Der Hitler-Nekrolog, soweit er überhaupt zur Kenntnis genommen worden war, konnte das Bild des Dichters bei den Deutschen nicht nachhaltig verdunkeln. Das Mitleid mit dem 87-jährigen Angeklagten, der der Haft entging, aber als Landesverräter mit dem Einzug seines Vermögens bestraft wurde, überwog allemal. Eine 1955 von der Schriftstellerin Hilde Fürstenberg gegründete Knut-Hamsun-Gesellschaft verschrieb sich der Pflege seines Werks mehr huldigend als kritisch.
Die Literaturwissenschaftlerin Gabriele Schulte legte 1986 eine umfangreiche Arbeit zu „Hamsun im Spiegel der deutschen Literaturkritik 1890 bis 1975“ vor. Sie sah am Ende des untersuchten Zeitraums eine „Renaissance der Werke Hamsuns“ heraufkommen und schlussfolgerte, Hamsun erfreue sich „heute“ in der BRD „offenbar steigender Beliebtheit“. Sie hätte nicht krasser irren können.
Haben wir es einfach mit einer Generationenfrage zu tun? Die Jahrgänge, die Hamsun schätzten – noch um 1970 wurde er viel gelesen –. sind nicht mehr da, aber warum kam so wenig nach? Ist die Hamsun-Abstinenz der Deutschen eine verspätete Distanzierung von der Dominanz des Nobelpreis-Romans in der Rezeption, von einem Dichter, der vielen nun einfach als „rechts“ erschien? Haben die 68er ihn nur als Nazi wahrgenommen und gar nicht erst begonnen, den Schriftsteller zu lesen?
Sollte es je zu einer Neuentdeckung kommen, so müsste am Anfang eine Emanzipation vom „Segen der Erde“ stehen und ein neues Lesen der frühen Werke von „Hunger“ bis „Pan“, die Hamsuns Ruhm als Wegbereiter der literarischen Moderne begründeten. Vielleicht war die Neuausgabe von „Hunger“ 2009 ein erster Schritt.
Stellen wir uns vor, Knut Hamsun hätte schon 1918 oder 1919 den Literaturnobelpreis bekommen (was tatsächlich diskutiert wurde). Dann hätte „Segen der Erde“ nicht die beherrschende Stellung erlangt. Vielleicht hätte die Vereinnahmung durch die NS-Kulturpolitik nicht so extreme Blüten getrieben, das Hamsun-Bild wäre differenzierter, und es gäbe keinen Grund, von einer fragwürdigen Ehrung zu sprechen.
Der Autor Jochen Pohlandt lebt als Übersetzer für Norwegisch in Wolfenbüttel