Zwischen Abbild und Inszenierung

"Image Profile" im MMK 2 schwelgt in der Vielfalt dokumentarischer Fotografie, ruft aber zugleich zur Skepsis auf.
Fünf Wochen war Barbara Klemm 1982 in Indien unterwegs. Von ihrer Recherchereise für die FAZ brachte sie eine Serie von Schwarzweiß-Fotografien mit. Faszinierende, perfekt komponierte Bilder von Männern mit Turbanen, Tempeln, Leben, das sich auf staubigen Straßen abspielt. Armut.
Auch Dayanita Singh fotografiert Indien. Doch ihre Arbeit „Museum of Little Ladies“ zeigt uns eine völlig andere Welt. Mädchen jeden Alters, zu Hause. Mal ernst, mal lachend, oft herausgeputzt und in Pose zwischen schweren Polstermöbeln. Fotos wie aus den Familienalben der indischen Mittel- und Oberschicht, der Singh selbst angehört.
Innensicht und Außensicht, zwei Bilder von unzähligen in einem riesigen Land.
Beide sind nun in der Ausstellung „Image Profile“ einander gegenüber gestellt, die im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (MMK 2) eröffnet worden ist. „Aspekte des Dokumentarischen“ in der fotografischen Sammlung des Museums möchte Kurator und Sammlungsleiter Mario Kramer zeigen. „Wenn wir abends ins Bett gehen, haben wir tausende von Bildern betrachtet, konsumiert, wie auch immer“, sagt er. Wie nehmen wir diese Bilder wahr, was machen die mit uns? Diese Fragen stellt Kramer und hat dafür mit seinem Assistenten Sergey Harutoonian viele Schätze aus der über 2500 Werke umfassenden fotografischen Sammlung des Museums herausgesucht.
Bei der klassischen Reportagefotografie sind sie dabei nicht stehengeblieben. Und schon die Gegenüberstellung der Arbeiten von Singh und Klemm erinnert uns daran, dass der Begriff des Dokumentarischen ein tückischer ist. Denn es ist klar, welches der beiden Indien-Bilder sich durch die jahrzehntelange Wiederholung ins kollektive Weltbild zumindest des Westens eingebrannt hat, welches wirkmächtiger ist. Die Ambivalenz der Dokumentation zeigte sich früher, als einige wenige Medien unser Bild von der Welt maßgeblich prägten. Aber genauso spüren wir sie heute, wo wir auf Blogs und Onlineprofilen mit der milliardenfachen Darstellung subjektiver Blicke, individueller Realitäten konfrontiert werden – und die Wirklichkeit dadurch oft nur noch verzerrter erscheint.
Die Macht der Bilder kann gnadenlos ausgenutzt werden. Daran erinnert Susanne Pfeffer, die mit „Image Profile“ ihre erste Ausstellung als MMK-Direktorin eröffnet. Ganze Kriege hätten mit Bildern begonnen. Der damalige US-Außenminister Colin Powell rechtfertigte 2003 den Irakkrieg mit angeblichen Beweisfotos eines Satelliten zu Chemiewaffenfabriken im irakischen Taji. Alles war fingiert, doch als das rauskam, war es zu spät.
In der Ausstellung ertappen wir uns immer wieder dabei, ganz leicht an etwas glauben, nur weil wir es sehen. Ein Filmstill, an eine Wand projiziert, zeigt uns eine idyllisch-grüne Tropenlandschaft. Am Himmel darüber: Ein Militärflugzeug, das in seine Einzelteile zerfällt. Das Werk stammt von David Claerbout und ist von 2001. Doch tatsächlich gehört nur die Landschaft ins jetzige Jahrtausend. Claerbout hat in Vietnam drei Wochen lang fieberhaft nach dieser Landschaft gesucht, genauer: Nach dem Ort, an dem 34 Jahre zuvor der Fotograf Hiromichi Mine während des Vietnamkriegs einen US-Flieger ablichtete, der von „friendly fire“ getroffen worden war. Das Flugzeug hat Claerbout aus der kriegszerstörten Kulisse von 1967 übernommen und per Scan in die sanfte Landschaft von 2001 eingepflanzt. Das Ergebnis ist ein Fake. Aber nur dann, wenn man es als tatsächliche Dokumentation betrachtet. Das ist es aber nicht. Es ist ein Kunstwerk, mit dem Claerbout Fragen nach dem Erinnern stellen will.
Über die Ereignisse von damals scheint Gras gewachsen – doch in Vietnam werden noch immer Kinder beim Spielen von Minen zerfetzt, in den USA haben sich mehr Vietnam-Veteranen das Leben genommen, als auf den Schlachtfeldern gestorben sind. Und Fotograf Hiromichi Mine ist aus dem Krieg niemals zurückgekehrt. Manchmal kann ein Fake mehr Wahrheit transportieren als die realitätsgetreue Abbildung.
Bis dokumentarische Fotografie überhaupt als Kunstform wahrgenommen worden ist, habe es gedauert, sagt Kurator Mario Kramer, der schon seit der Eröffnung im Museum arbeitet. Und es ist sicher kein Zufall, dass die erste Fotografie, die das MMK 1990 erwarb, „The Storyteller“ von Jeff Wall war. Ein Werk, das sich in seiner Darstellung junger indigener Amerikaner im Schatten einer wuchtigen Autobahnbrücke zwar zweifellos am Dokumentarischen orientiert, zugleich aber wie die meisten Werke des Künstlers so sorgfältig komponiert ist wie ein klassisches Gemälde.
Dass „The Storyteller“ in der aktuellen Ausstellung fehlt, ist überraschend und schon wegen seiner Bedeutung für die Sammlung schade. Dafür sind zwei andere Arbeiten von Jeff Wall zu sehen. Sowohl „Burrow“ als auch „Diagonal Composition No. 3“ rücken mit ihrer aufwendigen technischen Realisierung – ein Schwarzweiß-Silbergelatineabzug das eine, ein hinterleuchtetes Diapositiv das andere – die handwerkliche Dimension der Fotografie ins Bewusstsein.
So schlicht wie irgendwie möglich präsentiert sich dagegen ein Werk, das Mario Kramer sehr wichtig ist: „Die Toten. 1967-1993“, eine Schenkung von Hans-Peter Feldmann, besteht aus wenig mehr als einer Aneinanderreihung von Blättern. Auf ihnen sind Fotos, Namen und Sterbedaten all der Menschen abgedruckt, die im Zusammenhang mit dem, was wir heute den „Deutschen Herbst“ nennen, zu Tode gekommen sind. Alle Fotos hat Feldmann aus Printmedien entnommen. Einige schockieren, zeigen blutige Leichen auf dem Asphalt, andere sehen aus wie aus dem Fotoalbum entnommen. Gudrun Ensslin steht auf ihrem Foto hinter einem Kinderwagen und lächelt in die Kamera.
Dabei vermeidet Feldmann, der sich mehr als Chronist denn als Künstler sieht, jede Manipulation, jede Gewichtung, es gibt keine Systematik, in der er böse Täterbilder und freundliche Opferbilder zeigt. Er stellt alle diese Toten lediglich neutral nebeneinander – zur Dokumentation eines Kapitels deutscher Geschichte.
In einer Zeit, in der allerorten den Medienmenschen Verzerrung der Wirklichkeit vorgeworfen wird, lohnt es, sich mit den Reaktionen auf Feldmanns Arbeit zu beschäftigen. „Die Toten 1967-1993“ löste eine heftige Kontroverse aus. Die tatsächliche Dokumentation, der völlige Verzicht auf Bewertung und Kommentar der Ereignisse, er gefiel nicht.
Museum für Moderne Kunst (MMK 2), Frankfurt: bis 15. Juli. www.mmk-frankfurt.de