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Welten schaffendes Individuum

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Von: Arno Widmann

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Auguste Rodins "Der Denker" machte, anders als geplant, eine Solokarriere.
Auguste Rodins "Der Denker" machte, anders als geplant, eine Solokarriere. © afp

Meister des eigenständigen Künstlertums und der Unermüdlichkeit, der Potenz und unverschämten Nacktheit: Heute vor hundert Jahren starb Frankreichs berühmtester Künstler Auguste Rodin.

Eine Hand, deren Fingerspitzen einen Frauentorso halten. Rodins vor einhundert Jahren entstandene Plastik. Seine letzte, heißt es. An vielen Orten kann man Bronzerepliken von ihr kaufen. Die Vorstellung, dass die Hand, die den Torso hält, Rodins Hand oder doch ein Abguss von ihr sein soll, passt in unser Bild vom Meister. Zumal diese Arbeit auch noch „Die Hand Gottes“ heißt. Auguste Rodin, geboren am 12. November 1840, starb kurz nach seinem 77. Geburtstag am 17. November 1917, heute vor hundert Jahren.

Er war wahrscheinlich der berühmteste Künstler Frankreichs. Der Baedecker hatte darum gebeten, sein Pariser Atelier mit in die Liste der unbedingt aufzusuchenden Sehenswürdigkeiten aufzunehmen. Rodin bat darum, darauf zu verzichten, er habe so schon mehr Besucher als seiner Arbeit zuträglich seien. Die Ateliers Rodins in Paris und Meudon waren berühmt, berüchtigt, sagenumwogen. Rodin war ein Mythos. Es hieß, er beginne seine Morgen nicht mit einem Frühstück, sondern mit dem Geschlechtsverkehr mit einem seiner Modelle. Womöglich mit mehreren.

Rodins Potenz war mehr als Teil des Rodin-Mythos. Sie machte den Markenkern seiner Künstlerschaft aus. Rodin, so heißt es, sei der Vater der modernen Bildhauerkunst. Er war das, was seinen Stil angeht, sicher nicht. Aber das Bild vom freien Künstler, der in jedem Werk auch sich selbst ausdrückt – genau so sah sich Rodin, genau so wollte er, dass er gesehen wird. So hatte er als junger, unbekannter Künstler Michelangelos Arbeiten in Florenz erlebt. So wollte er werden.

Rodin hat nicht abgepaust - im Gegenteil

Als er dann mit einer ersten von diesem Wunsch beseelten Arbeit Erfolg hatte, dem „Bronzezeitalter“, da musste er sich gegen den Vorwurf verteidigen, er habe sein Modell nicht nachgeformt, sondern von ihm einen Abdruck genommen. Die Kritiker, viele Kollegen darunter, erklärten, so realistisch ließen die Oberflächen sich nicht in Ton bilden. Es handelte sich um einen nackten jungen Mann, der seinen rechten Arm auf den Kopf stützt und den Linken abgewinkelt vom Körper hält.

Eine antike Bewegung, nur dass hier kein Speer mehr gehalten wird, sondern der junge Mann einfach nur dasteht und sich so zeigt, dass die Bauchmuskulatur angespannt wird und der Betrachter genau beobachten kann, welcher Muskel angespannt und welcher entspannt ist. Wer das Foto des Modells mit der Skulptur vergleicht, der sieht sofort, dass Rodin nicht abgepaust, sondern etwas ganz Neues geschaffen hat. Freilich keine moderne Skultur, sondern eher ein wenig aufgerauhter Bouguereau (1825-1905) aus Gips.

Rilke – lesen Sie sein Buch über Rodin bei Insel! -, der 1905 und 1906 Rodins Sekretär war, schreibt über den Bildhauer: „Dieses Werk, von dem hier zu reden ist, ist gewachsen seit Jahren und wächst an jedem Tag wie ein Wald und verliert keine Stunde. Man geht unter seinen tausend Dingen umher, überwältigt von der Fülle der Funde und Erfindungen, die es umfasst, und man sieht sich unwillkürlich nach den zwei Händen um, aus denen diese Welt erwachsen ist. Man erinnert sich, wie klein Menschenhände sind, wie bald sie müde werden und wie wenig Zeit ihnen gegeben ist, sich zu regen. Und man verlangt die Hände zu sehen, die gelebt haben wie hundert Hände, wie ein Volk von Händen, das vor Sonnenaufgang sich erhob zum weiten Weg dieses Werkes.“

Er hörte nie auf, an den Blättern weiterzuarbeiten

Neben seinen plastischen Werken entstanden vor allem in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens unzählige – ein Augenzeuge spricht von einer Million – Zeichnungen. Sie entstanden ohne dass Rodin sie betrachtete. Er sah auf den Gegenstand, einen Nacken, die Schamlippen, ein Gesäß, die Brüste, und seine Hand zeichnete auf ein Blatt Papier. Er warf es achtlos auf den Boden, griff ein neues Blatt, sah noch einmal womöglich auf den selben Nacken, die selben Schamlippen und zeichnete sie wieder. Das konnte er Dutzende Male wiederholen.

Er bewahrte diese Blätter auf, griff immer wieder nach ihnen und bearbeitete sie auch nach Jahren immer wieder: Hier betonte, dort verwischte er die Konturen, hier setzte er einen Farbklecks hinein, dort machte er aus der Zeichnung ein Aquarell. Er hörte nie auf, an diesen Blättern, so viele es auch waren, weiterzuarbeiten.

Die „Pforten der Hölle“ war eine Auftragsarbeit für das geplante Musée des Arts décoratifs. Vierzig Jahre arbeitete er daran. Er wurde nie fertig damit. Die sieben Bronzefassungen, die es heute davon gibt, sind alle jüngeren Datums. Sie gehen alle zurück auf Gipsrekonstruktionen, die ebenfalls erst nach seinem Tode angefertigt wurden. Sie stehen im Musée d’Orsay und im Musée Rodin in Meudon.

Zum Ausdruck seiner Schöpferkraft gehört nicht nur der ungeheure Output Rodins, sondern auch die Hartnäckigkeit, mit der er an seinen Werken festhielt, sie zu verbessern suchte. Nicht damit sie einem kanonischen Vorbild entsprächen, sondern um sie ganz zu seinem Ebenbild zu machen. Das ist es, woran wir denken, wenn wir Rodin als einen der Gründerväter der modernen Figur des Künstlers bezeichnen.

Im Zentrum stand der weibliche Körper

Eine der Figuren aus den Dutzenden der „Pforten der Hölle“ ist sein „Denker“. Der hat inzwischen eine Solokarriere gemacht. Man kann ihn sich gar nicht mehr eingezwängt in eine Komposition vorstellen. Er muss allein dasitzen. Er braucht Raum um sich. Sein Balzac, dieser nackte Mann mit dem dicken Bauch, wurde abgelehnt. War es nicht vielleicht weniger, dass er dick war, als vielmehr, dass sein Penis überging in einen Baumstrunk? Man darf die Rolle des Penis im Werk von Rodin nicht unterschätzen. Eine seiner handgekneteten Bürger von Calais hat ein erigiertes Glied und sein nackter „Athlet“ masturbiert. Von Edward Steichen gibt es eine Fotografie des bekleideten Balzac, auf der die ganze Figur ein einziger in die Landschaft ragender Phallus ist.

Aber im Zentrum der Aufmerksamkeit Auguste Rodins stand der weibliche Körper. Falsch. Niemand konnte Vulven, Schamlippen und Scheiden so unbefangen zeichnen und modellieren wie Rodin.“ Das schreibt Anne Higonnet in einem Aufsatz über Rodin und Camille Claudel, sein Modell, seine Lebensabschnittsgefährtin und seine Kollegin. Wir blicken heute etwas konsterniert auf diese „Unbefangenheit“. Wir glauben nicht so recht an sie. Wir sehen eher eine Besessenheit, eine eigentümliche Verwirrung. Beim späten Picasso ist dasselbe zu beobachten, aber auch beim jungen Schiele, dessen Blätter übrigens denen von Rodin – nicht nur thematisch- sehr ähneln.

Man muss Rodin sehen in der Epoche, in der Sigmund Freud lebte, in der Otto Weininger seinen Geschlechterkampf führte. Dieses ganze Welten schaffende Individuum Auguste Rodin ist auch ein Zeitgenosse jener Männer, die halb Asien und nahezu ganz Afrika sich unterwarfen. Der Künstler Rodin ist auch ein Imperialist. Das Volk von Händen, von dem Rilke spricht, hat jeder Marx-Leser sehr genau vor Augen. „Hands“ hießen die Arbeiter in der zeitgenössischen Publizistik. Auguste Rodin schuf mit seinen Händen, was der Herr zu schaffen vergessen hatte. Er setzte neben die eine seine Welt. Das scheint vielen maßlos, aber es ist das Maß nicht nur seiner, sondern einer jeden Künstlerschaft.

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