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Der Topfpflanze als Tisch dienen

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Von: Sandra Danicke

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Melanie Bonajo, "Night Soil #2/Economy of Love", 2015
Melanie Bonajo, "Night Soil #2/Economy of Love", 2015 © the artist, Courtesy Collection Bonnefantenmuseum Maastricht

Melanie Bonajos politische Filmarbeiten im Frankfurter Kunstverein.

Wie man den Anforderungen und Absurditäten der kapitalistischen Gesellschaft entkommt? Manche versuchen es mit Ayahuasca, einem halluzinogen wirkenden Pflanzensud, der am Amazonas traditionell in religiösen Zeremonien verwendet wird. Die Droge löst Rauschzustände und Wahnvorstellungen aus. Es heißt, sie wirke bedeutend stärker als LSD. Es gehe darum zu lernen, wie man sich an einem unbekannten Ort wohlfühlt, erzählt eine Protagonistin in Melanie Bonajos halbdokumentarischem Film „Fake Paradise“, dem ersten Teil ihrer Trilogie „Night Soil“, die derzeit im Frankfurter Kunstverein zu sehen ist. Tatsächlich sind die ersten Erfahrungen mit dem Getränk, das aus einer Liane hergestellt wird, in der Regel wohl ziemlich unangenehm. Dann aber wird es spannend: Eine erzählt von ihrer Begegnung mit einer „nicht menschlichen Präsenz“, eine andere überlegt, wie es wäre, ein Blatt an einem Baum zu sein.

Die Frauen, mit denen Bonajo gesprochen hat, begreifen Ayahuasca nicht als Spaßdroge, sondern als Medizin: Sie wollen zum Kern ihres Wesens vordringen, sich von Geschlechtergrenzen und Rollenzuschreibungen befreien. Eine berichtet davon, wie sie ihren Körper hinterher als „göttlich schön“ empfunden habe. Man hört all dies, während man auf Schaumstoffkissen bequem in einer Art Schamanenzelt liegt und verrückte Bilder sieht: einen Mann, der sich aus Luftpolsterfolie und Besen ein Meerjungfrauenkostüm gebastelt hat und damit in der Badewanne liegt. Oder eine nackte Frau, die einer Topfpflanze als Tisch dient. Es sind seltsame, oft lustige Szenen, die Bonajo zur Versinnbildlichung ihrer Interviews gewählt hat. Was nicht heißen soll, dass die niederländische Künstlerin (Jahrgang 1978) die Erzählungen nicht ernst nimmt. Ganz im Gegenteil. Kurz erwähnt sie, dass sie ebenfalls Ayahuasca ausprobiert habe.

Auch zwei weitere Arbeiten der Ausstellung mit dem Titel „Single Mother Songs From the End of Nature“ handeln von Aussteigern und Zivilisations-Eskapisten. Wir begegnen Menschen, die ohne Geld von dem leben, was die Natur ihnen bietet; und einer Navarro-Indianerin, die sich auf ihre Traditionen besinnt. Wir erfahren von Diskriminierungen durch die Lebensmittelindustrie, davon, dass bestimmten Teilen der Bevölkerung eine gesunde Ernährung vorenthalten wird. Und wir treffen auf Frauen, die in New York als Amateur-Sexarbeiterinnen versuchen, spirituelle Formen von Sinnlichkeit und Selbstbefreiung zu erleben. Auch wenn man als Betrachterin nicht unbedingt den Wunsch hat, es ihnen gleichzutun, wirken Stringenz und Ernsthaftigkeit ihrer Lebensweise faszinierend. Aber womöglich ist die abermals bequeme und kreative Lagerstätte – eine Art stilisierter Eispalast mit Kuschelfell – auch mit verantwortlich, dass man dem Film und seinen Protagonistinnen mit großem Wohlwollen begegnet.

Melanie Bonajo ist offenkundig daran gelegen, dass man sich wohlfühlt. Ihre Installationen – die sie zusammen mit Théo Demans und Clemence Seilles entwickelt hat – erweitern nicht nur den jeweiligen Film in den Raum, sie sorgen auch dafür, dass man sich entspannt und daher Lust hat, die sehenswerten Filme auch wirklich zu Ende zu sehen. Für Kunst, die einen ernsten, kritischen Anspruch verfolgt, ist das ziemlich ungewöhnlich. Denn Bonajo geht es ja nicht darum, die jeweiligen Darsteller als Kuriosa vorzuführen, sie will zeigen, wie tief in Teilen der Gesellschaft das Bedürfnis ist, sich der allgegenwärtigen Fortschrittseuphorie und dem Optimierungswahn zu entziehen.

„Progress vs. Regress“ heißt ein weiterer Film, in dem Bonajo sehr betagte Menschen zu Wort kommen lässt, um herauszufinden, inwiefern die technischen Erfindungen der vergangenen hundert Jahre Einfluss auf soziale Beziehungen nehmen. Es sind Menschen, die nicht wissen, was ein Selfiestick ist und dennoch ganz gut durchs Leben gekommen sind. Menschen, für die einst ein Telefon oder eine Waschmaschine eine Sensation waren. Nach einer Weile fragt man sich ernsthaft, ob das Leben mit dem Internet und allem was dazu gehört – soziale Netzwerke, Online-Shopping, etc. – wirklich ein angenehmeres ist.

Auch Kinder spielen in der großartigen Ausstellung eine Rolle. Für den Film „Progress vs. Sunset“ hat Bonajo ihnen Bilder aus ihrem Archiv gezeigt: Amateuraufnahmen aus dem Netz, die Tiere in absurden Situationen zeigen und täglich tausendfach gepostet werden: ein Igel, dessen Kopf in einer Klopapierrolle feststeckt, ein Elefant, der an einem Kran hängt, ein Affe, der sich eine Plastiktüte wie eine Stola umgelegt hat. Bilder, die zugleich niedlich und unerträglich sind. Die zeigen, wie gnaden- und gedankenlos sich der Mensch verhält. Die Kinder spürten eine große Bürde, erzählt Melanie Bonajo über die Gespräche mit ihnen. Sie hätten Angst davor, dass sie der ganze Schlamassel, den wir ihnen hinterlassen, hinterher ausbaden müssten. Vermutlich haben sie damit nicht Unrecht.

Frankfurter Kunstverein: bis 27. August. www.fkv.de

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