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Das radikal Neue und die Liebe zu den Wiedergängern

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Von: Arno Widmann

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Raffael: Die Hochzeit von Alexander und Roxane, um 1517.
Raffael: Die Hochzeit von Alexander und Roxane, um 1517. © Albertina, Wien

Eine Raffael-Ausstellung in der Wiener Albertina erlaubt Blicke auf das, was der Renaissance-Meister in seinen Gemälden unsichtbar machte.

Gerade für die, die Raffaels Gemälde eher nicht mögen. Es gibt ja doch einige Menschen, denen die Himmelfahrtsblicke wie die Süße seiner minderjährigen Madonnen eher auf die Nerven gehen. Dazu kommen diese geballten oft deutlich voneinander abgesetzten Farbflächen, die Betonung des Umrisses – das hat alles Jahrhunderte lang Schule gemacht und ist über weite Strecken eins geworden mit dem, was wir als Kitsch verstehen. Madonnen gibt es nur wenige in der Ausstellung und insgesamt nur 18 Gemälde. Dafür aber 130 Zeichnungen. Das ist eine ganz andere Welt.

Aber eben doch nicht. Die Zeichnungen, das betont die Ausstellung, sind nämlich alle Vorarbeiten für Gemälde. Es gibt keine „selbstständigen“ Zeichnungen. Die Ausstellung kann darum immer wieder zeigen, wie aus ersten Entwürfen nach und nach Gemälde hervorgehen. Der Besucher, der sich die Zeit nimmt, sieht Raffael bei der Arbeit zu. Das ist eine sehr anregende, wäre ich nicht so schüchtern und völlig überzeugt von meiner künstlerischen Unfähigkeit, gar eine animierende Beschäftigung.

Es gibt zum Beispiel eine Zeichnung aus dem Jahre 1507 für eine Grablegung Christi. Da ist Raffael ganz offensichtlich damit beschäftigt, das Gewimmel an Gliedmaßen zu bewältigen, das die vier Träger und die trauernde Maria verursachen. Er verschafft sich einen Überblick. Das ist nötig, weil er aus der anmutigen Beschaulichkeit eines Perugino hinaus in die Bewegtheit eines Michelangelo möchte. Man steht davor und spürt förmlich, wie er zeichnend lernt, begreift und sich ins Körpergedächtnis einschreibt, was die Beine seiner Protagonisten treiben. Das Gemälde selbst ist in der Ausstellung nicht zu sehen. Ein Foto hilft uns beim Verständnis der Zeichnung, einer Leihgabe aus den Uffizien.

Zu den viel bewunderten Glanzstücken der Ausstellung gehört ein Männerbild, bei dem der Porträtierte über die Schulter hinweg den Betrachter ansieht. Es gilt heute als Bildnis des etwa 20-jährigen Bindo Altoviti. 1808 verkauften es seine Nachkommen an Kronprinz Ludwig von Bayern. So kam es in die Münchner Alte Pinakothek, die es 1936 – wohl in einem Tauschgeschäft gegen altdeutsche Meister – an den Kunsthändler Samuel Kress abgab. 1943 gab der es derNational Gallery of Art in Washington, die es nach Wien auslieh.

Das Bild ist ganz untypisch für Raffael. Das Charmieren mit dem Betrachter ist sonst nicht seine Art. Der bleibt fast immer draußen, wird nicht ins Bild gezogen. Schon gar nicht, als würde er aufgerissen, während die am Herzen ruhende Hand ihm signalisiert: Du gefällst mir. Immer mal wieder wurde das Bild, dank einer ambivalenten Formulierung bei Vasari, auch für ein Selbstporträt Raffaels gehalten.

Zu den auffälligen Merkwürdigkeiten der Ausstellung gehören eine Reihe Akte. Männliche und weibliche. Sie sind nicht Vorzeichnungen für Aktgemälde, wie es zum Beispiel die drei Grazien für das Wandgemälde „Die Hochzeit von Amor und Psyche“ sind. Bei denen ist übrigens auffällig, dass man bei der mittleren auf die Idee kommen könnte, es mit einem Männerkörper zu tun zu haben, dem ein kleines weibliches Bäuchlein hinzugefügt wurde. Gehen wir noch einmal zurück zur Grablegung. Neben der die verwirrende Unordnung der Beine klärenden Zeichnung gibt es eine ganz andere. Da stehen die drei den Leichnam Christi tragenden Männer ganz nahe beieinander. Für den Toten gäbe es keinen Platz mehr zwischen ihnen. Aber sie tragen schwer an ihm. Das zeigen ihre Bewegungen und ihre Muskulaturen. Die drei Männer sind nämlich nackt. Raffael hat sich hier etwas vergegenwärtigt, das auf dem Bild, wo die Männer bekleidet sind, keine Rolle mehr spielen wird. Die Rückenmuskeln des Mannes, der die Oberschenkel des toten Erlösers greift, sind dort nicht zu sehen. Sie verschwinden unter einer roten Bluse. Die lässt, wie oft bei Raffael, nichts durch. Sie wirft noch nicht einmal Falten.

Der Maler versteckt die Beobachtungen des Zeichners. Er löscht sie aus. Die Falten der Gewänder haben mit Muskelbewegungen nichts zu tun, sie folgen der Schwerkraft der Stoffe. Der Besucher der Ausstellung steht also begeistert, aber auch hilflos vor diesen Zeichnungen, die nur für das Gemälde entstehen, aber doch soviel herausarbeiten, das für das Gemälde nicht gebraucht wird. Es ist auch nicht so, dass der Betrachter etwas ahnen kann, das er nicht mehr sieht.

So ist es vielleicht bei der Studie zur Madonna im Grünen. Eine, wie auch das Gemälde, auf Leonardo verweisende Arbeit. Die Rötel-Zeichnung zeigt eine Madonna in einem dünnen Gewand, das den angeschwollenen Busen hervortreten lässt, das zugleich wie eine zweite Haut anliegt. Nur zwischen den Brüsten wirft es Falten. Sonst nirgends. Vor allem aber hat dieses Gewand nirgendwo einen Anfang oder ein Ende. Es ist eins geworden mit der Haut. Es erinnert an jene fleischfarbenen Kostüme, die die Rheintöchter in Inszenierungen trugen, die sie nackt zeigen sollten, ohne sie nackt zu zeigen.

Genau das passiert auf dieser Zeichnung. Wer von ihr instruiert einen Blick auf das Gemälde wirft, der entdeckt, das auf ihm die rechte Brust der Madonna eine Schwere gewinnt, die aus der Vorzeichnung kommt. Man sieht etwas, das nicht gezeigt wird, das versteckt wurde. Hier versteht der ansonsten ratlose Betrachter die Konzentration Raffaels auf das Unsichtbare, das unsichtbar Gemachte.

Wir feiern die Reformation. Da lohnt sich ein Blick auf die Renaissance. Es ging beide Male um Rückkehr. Wie nahe sich beide standen, kann man bei Cranach und auch bei Michelangelo sehen. Hier in der Albertina gibt es eine Rötelzeichnung, einen Entwurf zu einem nicht mehr vorhandenen, womöglich auch niemals fertiggestelltem Werk von Raffael: „Die Hochzeit von Alexander und Roxane“. Raffael versuchte ein Gemälde, das es schon seit fast tausend Jahren nicht mehr gab, zu rekonstruieren. Um das Jahr 160 hatte Lukian das fünf bis sechs Jahrhunderte zuvor entstandene Gemälde beschrieben. Eine schon was die Quellenlage angeht hochspekulative Angelegenheit. Rafael folgt Lukians Beschreibung allen Einzelheiten. Nur den Mantel, den der antike Autor Alexander anbehalten lässt, den zieht Rafael ihm aus.

Ein bedeutendes Bild der Antike wieder erschaffen für die erst noch zu kreierende Moderne, die nur wird erreicht werden können, wenn man Anlauf nimmt bis zurück ins vorchristliche Altertum, in die Welt der Götter und Helden. Nicht zurück zu den Anfängen christlicher Frömmigkeit also, zu einer wie auch immer verstandenen Botschaft des in Bethlehem Mensch gewordenen Gottes, sondern weit dahinter zurück.

In Raffaels Zeichnung trägt Alexander keinen Mantel. Sein Oberkörper und die Haltung der Hände folgen dem Apoll von Belvedere, Beine und Füße wohl eher dem Antinous in Neapel. Der Rückgriff ist ein Verschnitt, eine Collage, ein Versuch, das Verschwundene, das Zerstörte, das über Generationen immer wieder neu Zerschlagene, neu zusammenzusetzen und ihm Leben einzuhauchen für neue Jahrhunderte, in denen das Wahre, das Schöne und das Gute wieder einmal zusammen kommen sollten. Zu oft kam bei diesen gar zu großen Versuchen allerdings nur Kitsch heraus.

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