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Niki de Saint Phalle in der Schirn Frankfurt: Die Geburt der autonomen Weiblichkeit

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Von: Lisa Berins

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„I Am the Nana Dream House“, 1969, Druck auf Papier. Foto: Musée d’art et d’histoire Fribourg, 2023, Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris
„I Am the Nana Dream House“, 1969, Druck auf Papier. Foto: Musée d’art et d’histoire Fribourg, 2023, Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris © Musée d’art et d’histoire Fribourg, 2023, Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris

Niki de Saint Phalle sollte als feministische Künstlerin nicht unterschätzt werden, wie die Schirn-Kunsthalle zeigt.

In einem orangen Ball Chair schwingt sich die französisch-amerikanische Künstlerin im Videoausschnitt zum Publikum herum: „Ich bin Niki de Saint Phalle. Ich mache monumentale Skulpturen.“ Das wissen die meisten Besucherinnen und Besucher in der Schirn Kunsthalle sowieso, selbstverständlich. Sie kennen die Nanas, die majestätischen, voluminösen, farbenfrohen Frauenfiguren; die Frauenkörper, die sich begehrlichen, männlichen, sexistischen Blicken entziehen, die stark und unabhängig und lebensfroh sind. Die Künstlerin hatte sie ab 1965 erschaffen, sie bezeichnete sie als ein „Jubelfest der Frauen“; sie verkörperten die autarke, feminine Kraft und das Ideal des Matriarchats. Die berühmte, begehbare Nana-Großplastik „Hon“, realisierte de Saint Phalle 1966 zusammen mit Kollegen im Moderna Museet in Stockholm. Zu betreten war „Hon“ durch die Vagina. In ihrem Schwangerschaftsbauch: ein Vergnügungspark für Erwachsene, mit Milchbar, Kunst und Kino. Es war eine spektakuläre Installation, eine Provokation – eine Frechheit für die damalige Zeit.

Dennoch, oder vielleicht gerade wegen ihrer poppigen und aufsehenerregenden Kunst wurde Niki de Saint Phalle im kunsthistorischen Diskurs über Jahrzehnte nicht wirklich ernstgenommen und erst in jüngerer Zeit mit mehreren Ausstellungen neu eingeordnet. Sie auf ihre Nanas und das Spektakel zu reduzieren, wäre ein großer Fehler – wie nun die Ausstellung „Niki de Saint Phalle“ in der Schirn Kunsthalle demonstriert, in der die Künstlerin als eine Hauptvertreterin der europäischen Pop-Art gewürdigt wird; als Mitbegründerin des Happenings, als politisch Denkende und als eine der ersten Frauen, die sich im männlich dominierten Kunstbusiness durchsetzte. Die Schau ist eine Kooperation mit dem Kunsthaus Zürich, Frankfurt die zweite Station.

In einer magentafarben leuchtenden Halle werden rund 100 Werke aus allen Schaffensphasen der 1930 im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine als zweites von fünf Kindern der Amerikanerin Jeanne Jacqueline und des französischen Aristokraten André Marie Fal de Saint Phalle geborenen Catherine Marie-Agnès präsentiert. Niki, wie sie gerufen wurde, verließ 1960 ihren ersten Ehemann Harry Mathews und ihre zwei Kinder, weil sie Großes vorhatte: Kunst machen. Kunst machen, die mit Menschen kommuniziert. Die mit der weiblichen und ihrer eigenen Identität, mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihrer Unterdrückung kämpft. Einer Rolle, die für Niki de Saint Phalles eigenes Leben so gar nicht passen wollte.

Was sie tat, statt sich als Mutter und Hausfrau den Erwartungen zu fügen: Sie setzte alles auf die Kunst-Karte, sie intensivierte ihre Arbeit. Nach einem Nervenzusammenbruch hatte sie in den 50ern angefangen zu malen, dann kamen kleinere Objets trouvés hinzu, Steine, Flaschenkorken, Scherben, Plastikteile, sie fing an, Assemblagen daraus zu machen. Erstmals hatte sie ihre Werke 1956 in einer Galerie in St. Gallen in der Schweiz ausgestellt, sie lernte Leute kennen, die wichtig für ihren Lebenslauf wurden: vor allem den Künstler Jean Tinguely, zu dem sie 1960 in die Pariser Künstlersiedlung Impasse Ronsin ziehen, mit dem sie ein Paar werden und den sie heiraten würde, und den Direktor des Moderna Museet in Stockholm, Pontus Hultén, der ihr wichtigster Förderer wurde. Und dann schießt sie.

Anfang der 60er Jahre steht Niki de Saint Phalle in einem Pariser Hinterhof und zielt mit einem Gewehr auf ihre Kunst. Die Bilder sollten bluten, sagte die Künstlerin. Aus ihnen sollte die Farbe quillen, als seien sie verletzt. Unter einer Gipsschicht arrangiert die Künstlerin diverse Gegenstände, Spielzeug, Farbe, Drahtgitter, zurrt alles fest – und zielt drauf. Feuert auf goldgerahmte Werke, die sie „Alte Meister“ nennt, auf Miniatur-Kathedralen, auf Brotschneidemaschinen, auf Glas, Holz, Undefinierbares, das sich wulstig hervorstülpt, aus dem das Innerste herausfließt.

In der Schirn eröffnen diese Schießbilder den nicht chronologisch angelegten Parcours. Das Schießen – eine wütende, gewaltsame und kraftvolle Geste, eine Art Ventil, meint Kuratorin Katharina Dohm, ohne zu viel psychologisieren zu wollen. Die Schießaktionen waren Happenings, bei denen der Akt des Zerstörens an sich zur Kunst wurde. Künstlerkollegen wie Jasper Johns, Robert Rauschenberg oder Edward Kienholz machten mit, auch das Publikum schoss auf de Saint Phalles Werke.

Die Aktionen erregten schnell Aufsehen, die Presse berichtete. Bald war die Künstlerin über Frankreichs Grenzen hinaus bis in die USA bekannt. Eine weitere Anerkennung: Als einzige Künstlerin wurde Niki de Saint Phalle in den Kreis der „Nouveaux Réalistes“ um Pierre Restany aufgenommen.

Das sechs Meter lange Schießbild „King-Kong“ von 1962 ist ein monumentales Zeugnis dieser Phase. Im Bildmittelpunkt, unter einer fratzenhaften Sonne, nimmt eine Godzilla-Figur Kurs auf eine Großstadt – New York. Auf die Skyline stürzen Raketen ein, „Boom“ ist in eine Sprechblase geschrieben. Satirische Porträts von männlichen Protagonisten der Weltpolitik sind abgebildet - de Saint Phalles Kommentar zu den Krisen und Konflikten der Zeit, der Kubakrise, dem Vietnamkrieg, der nuklearen Bedrohung im Kalten Krieg. Auf der linken Bildhälfte nimmt ein anderes ihrer Hauptthemen Raum ein: die Frau als Gebärmaschine – abgebildet in Form einer Plastikpuppengeburt. Dieser Figurentyp taucht in zahlreichen Werken der Phase auf, in „Die rosa Geburt“ von 1964 („L’accouchement rose“), einer von Plastikbabypuppen, Spinnen und Flugzeugen besiedelten Gebärenden, und auf dem „Altar der Frauen“ („Autel des femmes“), 1964, auf dem eine totenähnliche Braut mit offengelegtem Herzen unsichtbar an einem Blumenstrauß gefesselt zu sein scheint.

Es ist die Zeit des Second-Wave-Feminismus, der die vorherrschenden Konzepte des Weiblichen kritisiert. Niki de Saint Phalle bezeichnete sich selbst zwar nie als Feministin, sie beteiligte sich auch nicht aktiv an der Bewegung – doch ihre Bilder sprechen eine eindeutig emanzipatorische Sprache. Sie spiegeln das Verlangen, die Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung der Frau und der Befreiung von allem, was sie einengt und fesselt. De Saint Phalle legte Wert darauf, unabhängig zu sein. Ihre Kunstwerke finanzierte sie selbst. Und sie baute sich ihre eigene Welt. Ihren „Tarotgarten“, ihr Lebenswerk – und ihre Antwort auf männliche Skulpturenparks wie Antoni Gaudís „Park Güell“ oder Ferdinand Chevals „Palais idéal“.

Von 1979 bis 1998 arbeitete sie auf einem Hügel eines ehemaligen Steinbruchs bei Garavicchio in der Toskana an ihrer Vision: Riesige mystische Figuren stehen dort, wie der „Magier“, oder die „Herrscherin“, eine Mischung aus Nana und Sphinx. In ihr lebte Niki de Saint Phalle zeitweise mit Jean Tinguely. Entwürfe für den „Tarotgarten“ sind in der Schirn ausgestellt, ebenso eine Miniatur der „Hon“, der begehbaren Schwangeren; der Mutterfigur der zahlreichen Nanas, die Galerien und Museen bevölkerten und die – dank des damals neuen Werkstoffs Polyester – wetterbeständig im öffentlichen Raum stehen konnten, wie etwa der bekannte Igor-Strawinsky-Brunnen vor dem Centre Pompidou in Paris, den die Künstlerin 1983 mit Jean Tinguely schuf (und der in der Ausstellung nicht erwähnt wird).

In den 70ern tauchte eine neue, eine ambivalentere Frauenfigur im Werk Niki de Saint Phalles auf: Statt der fröhlichen Nanas standen die „verschlingenden Mütter“ im Fokus. Es sind die an die Konventionen und das patriarchale System angepassten Frauen der älteren Generation, die mit Lockenwicklern im Haar am Schminktisch oder die beim Teetrinken sitzen. Die Plastik „Die Körperpflege“, 1978, ist das letzte Werk der Serie, darin nimmt Niki de Saint Phalle explizit Bezug auf ihre Mutter. In diesem künstlerischen Abschnitt setzt sie sich direkt mit ihren biografischen Erfahrungen auseinander; auch mit dem Missbrauch durch ihren Vater in ihrer Kindheit.

Dass Niki de Saint-Phalle, die 2002 starb, immer ein kritisches Auge auf die Welt um sich herum hatte, beweisen die Werke im hinteren Teil der Ausstellung, in denen es um Abtreibung, Waffenbesitz und Klimawandel geht, und um die Krankheit Aids, die zwei Vertraute der Künstlerin tötete. Ein spiegelmosaikbestückter phallischer Obelisk glänzt wie eine nicht aktivierte, standhafte Diskokugel im hinteren Eck des Raumes – zugleich als Mahnung und Symbol von Lebensfreude. Das war Niki de Saint Phalle: lebensbejahend, kraftvoll, humorvoll. Möglich, dass das scheinbar saloppe, fröhliche Äußere nicht gerade in das Bild von seriöser Kunst passte – zumindest nicht, wenn es ein selbstbewusstes, weibliches Augenzwinkern war.

Schirn Kunsthalle, Frankfurt.

Bis 21. Mai. www.schirn.de

Die Künstlerin bei einer Schießaktion zur 800-Jahr-Feier von Notre-Dame, 1963. Foto:
Die Künstlerin bei einer Schießaktion zur 800-Jahr-Feier von Notre-Dame, 1963. Foto: Dalmas / SIPA, Werk / 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris © Dalmas / SIPA, Werk / 2023 Niki Charitable Art Foundation / Adagp, Paris

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