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Michael Anthony Müller und der „Birkenau-Zyklus“ – Im Dialog mit einem alten Meister

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Von: Ingeborg Ruthe

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Es ist keine Ketzerei, mit Richters Zyklus ins Gespräch zu kommen.
Es ist keine Ketzerei, mit Richters Zyklus ins Gespräch zu kommen. Foto: Studio Michael Müller/ Frank Sperling © Studio Michael Müller/ Frank Sperling

Darf der das? Vom Wagnis des Künstlers Michael Anthony Müller, den „Birkenau-Zyklus“ des Malerstars Gerhard Richter zu paraphrasieren.

Die monumentale Raumarbeit des Deutsch-Briten Michael Anthony Müller in der Kunstkirche Sankt Matthäus am Berliner Kulturforum spaltet die Gemüter. Die einen finden es spannend, wie der 52-Jährige mit dem berühmten Birkenau-Zyklus des 91-jährigen Weltstars Gerhard Richter in einen kritischen Dialog tritt. Andere halten das für epigonal, und noch anderen ist es Anmaßung, eine heutige Version der Majestätsbeleidigung.

Der Konzeptkünstler Michael Anthony Müller, der gerade erst eine raumgreifende Arbeit im Frankfurter Städel Museum präsentiert hatte, geht also nun öffentlich das Risiko ein, ausgerechnet das geheiligte Richter-Hauptwerk zu befragen, das als wesentlichste künstlerische Reibung mit dem schändlichsten, grässlichsten Kapitel deutscher Geschichte gilt. Michael Müller tut dies zudem in einem Gotteshaus: In der evangelischen Sankt-Matthäus-Kirche wurde einst der Widerständler Dietrich Bonhoeffer ordiniert, der noch knapp vor Kriegsende von den Nazis hingerichtet wurde.

Bekanntlich wurden die Birkenau-Tafeln unlängst erst von der Richter-Stiftung im Rahmen der „100 Werke für Berlin“ den Staatlichen Museen als Dauerleihgabe überlassen. Die Bilder sind gedacht fürs künftige „Museum des 20. Jahrhunderts“, bis dahin zu sehen im Werkraum des Mies-van-der-Rohe-Baus. Der Wahlberliner Müller, bis 2018 Gastprofessor an der UdK Berlin, ist unübersehbar ein Skeptiker. Ein Künstler, der existierende Formen, Methoden und Normen zweiflerisch befragt. Einer, der Irritation bis hin zum Irrationalen auslöst mit seinen eigenwilligen Paraphrasen des bereits Vorhandenen.

In diesem Falle ist es der von der jüngeren Kunstgeschichte ins Sakrale erhobene Richter’sche Birkenau-Zyklus. Es ist jedoch keine Ketzerei, dass Müller diese abgründigen Bilder als 16-teilige Umformulierung „reproduzierte“ und auf schwarzen Wänden noch mit Motiven der Landschaft um das einstige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau versah. Am Eingang hängen seine vier Farbfotos, die er am Ort des Massenmordes machte. Sie stehen in unmittelbarem Kontext zu jenen vier Schwarzweißfotos, die Gerhard Richter im Archiv fand und die von Alberto Errera stammen. Der griechische Jude gehörte zum „Sonderkommando“ von Auschwitz-Birkenau, hatte die Aufnahmen heimlich gemacht und ließ sie aus dem Todeslager schmuggeln. Sie gelten als einzige direkte visuelle Zeugnisse des Holocausts.

Zu diesem „Sonderkommando“ gehörten, wie Errera, jüdische Häftlinge, die auf Leben oder Tod gezwungen wurden, ihre Leidensgefährten in die Gaskammern zu treiben, die ineinander verkrallten Leichen herauszuzerren, ihnen die Goldzähne auszubrechen und sie in den Öfen oder in Gräben zu verbrennen. Diese perverse Taktik der Nazis war eingebunden in die Strategie, jedes Zeugnis und jeden Zeugen des Holocausts zu vernichten und so alle Spuren zu tilgen. Die „Sonderkommando“-Häftlinge wurden schlussendlich ebenfalls ermordet.

Diese „übermalten“ Fotos also passte Müller in seine abstrakten Birkenau-Bilder ein; links und rechts des Kirchenraums werden sie zu „Altarbildern“ und Ecce-Homo-Metaphern. Die traditionellen Kruzifixe stecken, wie auch bei Richter, in der abstrakten Darstellung des Zivilisationsbruchs. Der Berliner Künstler sucht die Entsprechung zum zweiten Gebot: „Du sollst dir kein Bild machen.“ Er hält sich daran, wohl wissend, dass die Vorstellungskraft der Menschen eine wichtige Eigenschaft ist, die im Glauben die riesige Distanz zum Unvorstellbaren überwindet und so erst Beziehungen ermöglicht. Auch Jesus, das besagt die biblische Geschichte, sprach in Bildern, in Gleichnissen, um jenen, zu denen er sprach, das Unfassbare begreiflich zu machen.

Müller versichert, mit dem von ihm hochverehrten Maler Gerhard Richter keineswegs in einem Wettstreit zu stehen. Allerdings wünsche er sich ein Gespräch mit dem alten Meister. Der viel jüngere Maler sieht seine Paraphrase als Anstoß zu einem intellektuellen Diskurs mit dem vielschichtigen Werk Richters.

Über beiden Positionen steht die Frage nach der Darstellung des Holocausts und nach dem künstlerischen Umgang mit dem Bösen. Nicht grundlos hat Müller am Eingang seiner Schau die Replik eines steinernen Kopfes des unter den Nazis als entartet stigmatisierten, in Lublin-Majdanek ermordeten jüdischen Expressionisten Otto Freundlich postiert, dazu auf einem Vitrinenbord eigene graue Metallköpfe malträtierter Häftlinge. Große Schrifttafeln in hebräischer und deutscher Sprache zitieren als „mögliche und unmögliche Bilder“ Bruchstücke der Sprache der Täter. Es sind Texte von Georges Didi-Huberman, Primo Levi und Hannah Arendt, deren Postulat von der „Banalität des Bösen“ den Epilog bildet. Links daneben hängen Michael Anthony Müllers Tafeln „Birkenaugrau“ und das den Ort des Todes konterkarierende, frühlingshafte „Birkenau-Orange“.

Lässt sich das Grauen des Holocausts überhaupt darstellen? Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben sei barbarisch, schrieb der Philosoph Theodor Adorno 1949 und löste damit im westlichen Kunstbetrieb für Jahrzehnte ein kategorisches Verdikt der Figurenmalerei aus. Michael Anthony Müller stellt im Jahr 2023 abermals die unbequeme, wohl auch grundlegende Frage nach künstlerischen Formen und Grenzen der Darstellbarkeit von unerträglichen Ereignissen. Und damit auch zugleich zum Verhältnis von Fotografie und Malerei, Wirklichkeit und Abbild, Gegenständlichkeit und Abstraktion.

Eine endgültige Antwort gibt es nicht. Nicht bei Richter, nicht bei Müller. Wohl aber den Anstoß, sich damit zu befassen, sich zu öffnen, die Vergangenheit an sich herankommen zu lassen, so unerträglich sie auch ist – im Dialog und als Rezeption des großartigen Birkenau-Zyklus des Kriegskindes Gerhard Richter aus dem 1945 im Bombenhagel völlig verbrannten Dresden. Und im Dialog mit der „Umformulierung“ des spätgeborenen Künstlers Müller, der sich mit der Ästhetik und Bildwerdung komplexer Gedankenprozesse auseinandersetzt und der diese Bilder nach ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit, ihrer Wirkung für den Erkenntnisprozess befragt.

Möglich ist das im Richter-Raum des Museums, und herausgefordert wird das in einer Kirche in Tiergarten, einst Wohnviertel des jüdischen Berliner Bürgertums bis zu dessen Deportation, das Areal zerstört von den größenwahnsinnigen Plänen für Germania. Und so darf Kunst auch die zweiflerische Frage stellen, warum Gott zuließ, dass Menschen so etwas taten.

St.-Matthäus-Kirche, Berliner Kulturforum: bis 3. September. stiftung-stmatthaeus.de

Michael Müller, Installation „Am Abgrund der Bilder“ in der Berliner St.-Matthäus-Kirche.
Michael Müller, Installation „Am Abgrund der Bilder“ in der Berliner St.-Matthäus-Kirche. Foto: Studio Michael Müller/Frank Sperling © Studio Michael Müller/Frank Sperling

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