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Jan Vermeer im Rijksmuseum Amsterdam: Stille. Intimität. Und Licht

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Von: Ingeborg Ruthe

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Die Magie des Johannes Vermeer van Delft im Rijksmuseum Amsterdam, dem es gelingt, 28 der nur 37 Gemälde des rätselhaften Barock-Malers zu versammeln

Jede Zeit“, schrieb Heinrich Heine, „ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.“ Zwar lebte der Dichter dieser Metapher fast zwei Jahrhunderte später als der Maler Johannes Vermeer (1632-1675), der zu früh gestorbene Protagonist der Blütezeit der Niederlande. Mag auch das „Goldene Zeitalter“ mit Schall und Rauch sowie Schaum auf den Wellen der kolonialen Seefahrt-Routen der Buren in die Geschichte gestürzt sein – das Rätsel um die „Sphinx von Delft“ ist noch immer nicht ganz gelöst. Und das trotz intensiver Forschung.

Johannes Vermeer aus dem für seine blau-weiße Kachel-Kunst berühmten Grachten-Städtchen Delft hinterließ ein zwar überschaubares, dafür jedoch ziemlich geheimnisumwobenes Werk. Irritierenderweise sind weder Zeichnungen, Vorstudien noch Skizzen vorhanden. Es scheint, als habe dieser Maler, Sohn eines Delfter Kunsthändlers und Gastwirts vom „De Vliegende Voss“ (Der fliegende Fuchs. Diese Gaststätte gibt es noch immer!) wie ein Akrobat ohne Netz und Geländer gewirkt. Als der zweimalige Vorsteher der Delfter Lukasgilde mit nur 43 Jahren vermutlich an Herzversagen nach einem Nervenzusammenbruch starb, waren nur 37 Bilder gelistet. Klein zumeist, dafür magisch, intim. Motive, die einen fast zum Voyeur, zur Voyeurin machen. Vermeer war in tiefer Sorge um seine Existenz sowie um die Zukunft seiner elf Kinder in den „Rampjaaren“ (Katastrophenjahren) des Krieges von England, Frankreich, Köln und Münster gegen die Republik Niederlande von dieser Welt gegangen.

Seine stimmungsgeladenen Szenen sind heute wieder Inspiration für junge Maler weltweit. Sie befinden sich im Besitz von 19 Sammlungen in sieben Ländern der Erde. Dem Amsterdamer Rijksmuseum und dessen Chef der Abteilung Bildende Kunst, Gregor J. M. Weber, gelang als Höhepunkt vor seiner Pensionierung eine Weltsensation: Er konnte 28 der insgesamt 37 Vermeer-Ikonen an einem Ort versammeln! Zig Fernreisen müsste man sonst ihretwegen machen. Den Anstoß zum Coup gab der Umbau der New Yorker Frick Collection. Sie verleiht wegen der damit verbundenen langen Schließzeit erstmals überhaupt ihre drei Vermeer-Schätze: „Die Dame mit der Dienstmagd“, „Die unterbrochene Musikstunde“, „Der Soldat und das lachende Mädchen“, eine beredte Szene unter einer Weltkarte.

Große Museen der Welt gaben ihre Vermeers nach Amsterdam, wo die Säle extra vom Designerteam Wilmotte & Associés kostbar mit jeden Laut verschluckenden Samtvorhängen und sanft getönten Wänden in Burgund/Mauve, Waldgrün und Nachtblau ausgekleidet worden sind. So, als gehe es ums Zelebrieren eines Hochamts.

Der Pariser Louvre lieh seine legendäre „Spitzenklöpplerin“ aus, Berlins Gemäldegalerie „Das Glas Wein“, in dem ein Mann ein blutjunges Meisje mit Wein zu verführen versucht, außerdem „Junge Dame mit dem Perlenhalsband“. Dresdens Altmeister-Galerie schickte das „Brieflesende Mädchen am offenen Fenster“ sowie das Werk „Bei der Kupplerin“, wo sich Vermeer – so die spekulative Interpretation – als süffisant lächelnder Beobachter selbst ins Bild gesetzt haben soll. Das Mauritshuis Den Haag steuert berühmte Motive wie das „Mädchen mit dem Perlenohrring“ bei.

Auch namhafte Museen in Tokio, London, Edinburgh und Dublin schickten ihre Vermeer-Ikonen nach Amsterdam. Selbst Washington und New York gaben ihre wie Augäpfel gehüteten Vermeers her. Frankfurts Städel leiht den „Geographen“. Der Globus und das durch die Bleiglasfenster einfallende Licht stehen für die im „Goldenen Zeitalter“ zu erkundende und wegen neuer Handelswege zu erschließende Welt. Leider war das Pendant, der „Astronom“ aus der Louvre-Dependance Abu Dhabi, nicht ausleihbar.

Nicht zuletzt wartet das Rijksmuseum mit seinem Bestand des Meisters auf: Mit dem „Liebesbrief“, der „Briefleserin in Blau“, der „Straße in Delft“ und dem „Milchmädchen“. Das wohl populärste Bild war für Kurator Weber und die Rijks-Restauratoren ein spannendes Forschungsobjekt. Hightech-Apparate, wie sie sonst nur in Medizin und Raumfahrt eingesetzt werden, brachten neue Erkenntnisse: Dieser vermeintlich jeden Pinselzug bedenkende Fein-Maler setzte die ersten Farbstriche in Dunkel und Hell eilig, spontan, gar ruppig, mal fast expressiv, mal impressiv, dann experimentierend, für die Spannung der Komposition ein.

Die Magd, die eine Reste-Mahlzeit aus altem Brot und Bier sowie Milch zubereitet, gießt andächtig Milch in eine hohe Schale. Psst! Bloß nicht stören, sonst verschüttet sie diese! Soweit treibt Vermeer den Illusionismus. Man glaubt, das Geräusch des Milchstrahls zu vernehmen. Diese Szene spielt vor einer leeren Wand. Die Infrarot-Spektroskopie brachte nun ein früheres Wandregal sowie auf dem Küchenboden einen Feuerkorb zutage. Gegenstände, die der Maler getilgt hatte, weil ihm – wie modern! – die Reduktion wichtiger war.

So konnte er die junge Frau mit ihrer simplen Arbeit und dem aufs gelbe Mieder auftreffenden Licht gleichsam monumentalisieren. Wollte er womöglich so das Soziale betonen? Jedenfalls ergab die Spektroskopie, dass Vermeer – als einziger Maler seiner Zeit – das Pigment „Grüne Erde“ benutzte, als leichten Grünstich für die Partien der Schatten auf der Haut junger Frauen. Vermeer verdunkelte nicht, um Figuren und Dinge plastisch erscheinen zu lassen. Er tauchte sie vielmehr ins Licht.

Auch bei der „Kleinen Straße in Delft“ (eine Ansicht, die sich noch heute so bietet) brachte die Hightech-Untersuchung Verblüffendes zutage: Der Maler hatte ursprünglich zwei Frauen im Hausdurchgang platziert, doch die Stehende dann spiegelverkehrt bei der Arbeit in den Hofzugang versetzt. Dies geschah offensichtlich wegen des Lichteinfalls, der so zur weiteren Verinnerlichung des Sujets führt. Und zur gesteigerten Spannung der Komposition. Im Gemälde des „Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster“ hat Vermeer seine Raumaufteilung noch nicht ganz geklärt. Dazu passt auch das Rätsel um den unlängst von Dresdner Forschern unter der Wandübermalung freigelegten Amor. Vermeer experimentierte beim Spiel mit Innen und Außen, mit Nähe und Distanz.

Die Bildfolgen entstanden offenbar ohne Zwischenschritte in rasanten maltechnischen, geradezu experimentellen Sprüngen. Sie überraschen selbst solche Vermeer-Kenner wie Gregor Weber. Mal hat der Maler den Raum geschlossen, mal geöffnet. So holen leicht geöffnete Fenster das Licht der weiten Welt herein in die intimen, traditionellen Interieurs aus schwerem Holz, orientalischen Webwaren und schwarzweißen Steinböden.

Das „Mädchen mit dem Perlenohrring“, wegen ihres unverwandten Blicks auch als Mona Lisa des königlichen Mauritshuis Den Haag bezeichnet, gehört zu den im Barock „Tronies“ genannten Darstellungen. Kostümierte Figuren eines „Typus“. Die Lolita unter einem blaugelben Turban hat die Lippen leicht geöffnet. Das hätte zu Vermeers Zeit als lasziv gegolten. Er aber betonte die sinnliche Kindfrau als unschuldiges Wesen. Und setzte dies fort mit dem „Mädchen mit rotem Hut“ sowie dem „Mädchen mit Flöte“. Letzteres hat man in der Washingtoner Nationalgalerie Vermeer zwischenzeitlich aberkannt, dann doch wieder zugeschrieben.

Solchen Zweifeln war besagtes Mädchen aus dem Mauritshuis nie ausgesetzt. Forscher unterzogen das Bild 2020 einer Hightech-Vivisektion. Wer sie wohl war? Das Rätsel ließ sich nicht lösen, das der Maltechnik schon. Die magisch zarten Wimpern konnten nur durch den Scanner richtig sichtbar gemacht werden. Und die wie schwebende Perle am Ohr. Das schimmernde Rund über dem weißen Kragen ist eine fast surreale Erscheinung, eine optische Täuschung.

Vermeer hat die Konturen der Gestalt zügig angelegt, dann aber korrigiert und den anfänglich grünen Vorhang weggelassen. Zuerst baute er Schichten aus Braun- und Schwarztönen auf, die er übermalte. Die ganze Farbpalette ist belegt: Die Pigmente kamen aus aller Welt. So benutzte Vermeer auch Ultramarin, das damals so teuer wie Gold war.

Das „Mädchen mit dem Perlenohrring“ entging einem schändlichen Schicksal. Hitlers Kunstagenten waren als Auftragsräuber auch durch die besetzten Niederlande gezogen und forderten vom Mauritshuis-Direktor rüde, er möge das „schönste Bild“ seiner Sammlung fürs künftige Linzer „Führermuseum“ herausrücken. Als der Mann, wie es Jahre später das Dresdner Kunsthistoriker-Paar Ruth und Max Seydewitz in einem Buch vermerkten, das feine kleine Motiv aus dem Schutzdepot an der Nordsee holen lassen musste, sagte der banausische Nazi-Agent verächtlich, das sei doch eine Jüdin. Die wolle er nicht! Seine Dummheit rettete die Vermeer-Preziose.

Etliche Motive Vermeers sind religiös. So das Werk „Die Heilige Praxedes“ aus dem Nationalmuseum Tokyo. Auch die „Allegorie des katholischen Glaubens“ aus New York. Magisch wirkt die Spiegelung einer Glaskugel, das Glaubens-Symbol der Jesuiten. Vermeer war offenbar mit jesuitischen Schriften vertraut. Das besagt auch die „Perlenwägerin“ aus der Nationalgalerie Washington. Das Mädchen wiegt aber keine Perlen. Die Waagschalen sind leer. Ein biblisches Gleichnis, denn in der Szene des „Jüngsten Gerichts“ an der Wand werden Seelen gewogen.

Der Kunsthistoriker Gregor Weber hat lange geforscht, was wohl dahinterstecken mag. Er fand heraus, dass sich nahe Vermeers Haus in Delft eine Jesuitenmission mit einer versteckten Kirche und einer Mädchenschule befanden. Vermeers Töchter lernten da. Typisch für die geistliche Literatur der Jesuiten ist es, die weltliche und göttliche Sphäre zu verbinden. Inmitten der protestantisch reformierten Niederlande hatte Vermeer in eine tiefkatholische Familie eingeheiratet.

Möglicherweise habe Vermeer, das ist Webers spektakuläre Entdeckung, durch die Jesuiten die Camera Obscura kennengelernt. Dem Orden galt sie als Werkzeug zum Sichtbarmachen „des göttlichen Lichts“. Der Kurator fand in Delft eine Zeichnung des Pfarrers und Künstlers Isaac van der Mye aus der Vermeer-Zeit, die die Merkmale einer Camera Obscura aufweist. Typische Lichteffekte und der Fokus auf Schärfe inmitten der Unschärfen finden sich auch in Vermeers Malerei.

So der frappierende Effekt der „Spitzenklöpplerin“ aus dem Louvre: Die Fäden auf dem Klöppelkissen im Vordergrund sind verschwommen, die zwei Fäden in ihrer Hand aber lupenscharf. So wären auch die wie Glühwürmchen gleißenden Lichtpünktchen auf den alten Brotkrumen des „Milchmädchens“ zu erklären. Vermeer war ein betörender Illusionist! Wen wundert es, dass schon Tage vor Eröffnung der Schau über 200 000 Online-Tickets gebucht waren.

Überraschendes gibt es dann auch in der Ausstellung über Vermeers Zeit und Zeitgenossen im Delfter Museum Prinsenhof: Vermeer versah in etlichen Bildern die Wände hinter den Figuren mit Motiven seiner Delfter Malergilde. So mit Jacob Jordaens „Christus am Kreuz“ in der „Allegorie des katholischen Glaubens“ aus dem Metropolitan Museum New York oder mit Dirck van Baburens derber „Kupplerin“ hinter der „Sitzenden Virginalspielerin“ aus der Londoner National Gallery.

Die Nachwelt flicht dem geheimnisvollen Maler einen fulminanten Kranz. Symbolisch liegt ein stilllebenartiges Blumen-Gebinde auf seiner schlichten Grabplatte in der Delfter Oude Kerk mit ihrem rätselhaft standhaften schiefen Turm.

„Der Soldat und das lachende Mädchen“, ca. 1657-1658. Foto: The Frick Collection, New York/Foto: Joseph Coscia Jr.
„Der Soldat und das lachende Mädchen“, ca. 1657-1658. Foto: The Frick Collection, New York/Foto: Joseph Coscia Jr. © The Frick Collection, New York ©2022

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