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Jan Schmidt in Offenbach: Die Melancholie des gekrümmten Blattes

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Von: Sandra Danicke

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Nummer 7882 tritt eher dominant auf. Foto: Jan Schmidt
Nummer 7882 tritt eher dominant auf. © Jan Schmidt

In Schmidts „Archiv eines Sommers“ kann man 21634 Entdeckungen machen

Blätter hängen an der Wand. Genauer: Sie sind aufgespießt auf Nadeln, die wiederum an den Rückwänden verglaster Objektkästen befestigt sind. Insgesamt sind es 21 großformatige Kästen, einige davon liegen übereinander auf einem Stapel. Die Mehrzahl aber hängt im Foyer des Deutschen Wetterdienstes in Offenbach an den Wänden, einer neben dem anderen. Jetzt die Blätter: Sie stammen von einem Japanischen Schneeball, das ist ein etwa drei Meter hoher ausladender Busch, der neben dem Hauptgebäude des Wetterdienstes steht. Jan Schmidt, der Künstler, um dessen Arbeit mit dem Titel „Archiv eines Sommers“ es hier geht, hat die Blätter nicht vom Baum gepflückt. Er hat gewartet, bis sie von selbst abfielen.

Aber von vorne: Im Mai 2019 begann Schmidt damit, die Blätter des Busches zu nummerieren. Er beklebte sie einzeln – Ast für Ast von innen nach außen – mit gelben Klebepunkten, die er händisch mit fortlaufenden Zahlen beschriftet hat. Im Oktober, nach fünf Monaten also, war er bei 21 634 angekommen. Die Zahl passt kaum auf den kleinen Klebepunkt. Waren nun sämtliche Blätter des Busches durchgezählt und markiert? Das war der Plan, doch auch im Herbst kamen immer wieder Blätter nach, Vollständigkeit war letztlich unmöglich.

Jedes Blatt an seinem Platz

Dann wartete der Frankfurter Künstler (Jahrgang 1973), bis im Winter das Laub fiel, und sammelte die Blätter wieder ein – zumindest jene, die er finden konnte, was immerhin deutlich mehr als die Hälfte ist. Jetzt sortierte er die spitz zulaufenden Blätter – keine leichte Aufgabe; viele hatten sich zusammengerollt und mussten erst aufgebrochen werden, manche hatten einen Klebepunkt, doch die Nummer war nicht mehr lesbar – und spießte sie auf. Der Reihe nach, jedes auf seinen eigenen Platz, von 1 bis 21 634. Die Fehlstellen ließ er frei.

Das Ergebnis ist nicht nur deshalb beeindruckend, weil hier jemand so unendlich viel Zeit und Mühe investiert hat. Es ist eine Arbeit, die erstaunlich viel erzählt. Das, was wir vor uns sehen, sind Landschaftsbilder. Es sind Stillleben, die von Vergänglichkeit handeln, vom Werden und Vergehen, von Metamorphose. Sie verweisen auf all das und all diejenigen, die verloren gegangen sind. Erinnerungen, Besitz, Menschen. Oder auch: Spezies, ausgestorbene Arten, die im Laufe der Evolution auf der Strecke geblieben sind. Man kann auch den Klimawandel heranziehen, auch wenn die Arbeit darauf vermutlich gar nicht angelegt ist.

Die Kästen erzählen von der Vielfalt der Natur. Buchstäblich jedes dieser Blätter sieht anders aus: die Zacken am Rand, die grün-braune Färbung, die gepunkteten Flecken. Jedes ist anders gekrümmt, gerollt, geklappt. Aber auch vom Sammeln und Sortieren handelt dieses Werk; man denkt an aufgespießte Käfer in Museumsvitrinen. Blätter sammelt man ja normalerweise flach gepresst in einem Herbarium, indem man ihr dreidimensionales Entfaltungspotenzial ignoriert. Aus der Ferne hat man das Gefühl, lebendigen Wesen dabei zuzusehen, wie sie sich verhalten: Manche bleiben für sich, andere ballen sich zu Gruppen. Es dauert nicht lange, und man beginnt, den einzelnen Blättern Eigenschaften anzudichten.

Das „Archiv eines Sommers“ schenkt dem Unscheinbaren Aufmerksamkeit. Es zeigt das scheinbar Nebensächliche als Quelle unendlichen Reichtums.

Deutscher Wetterdienst Offenbach: bis 12. Dezember. www.dwd.de

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