Inge Werth - eine Chronistin der 68er

Das Museum Giersch würdigt die Fotografin Inge Werth erstmals mit einer Ausstellung. Ihre Aufnahmen sind kulturhistorisch äußert aufschlussreich.
Welch’ ein Wir-Gefühl, legendär. Wir dagegen nehmen bloß unseren Golf, Generationen bedingt, auf dem Weg in eine andere Zeit, damals. So geht es uns durch den Kopf, auf unserer Anfahrt – auf unserer Zeitreise in eine Aufbruchzeit. „Alle Türen offen“: auch das eine damals oft gehörte Devise.
Wir dagegen öffnen das Schiebedach, auf der Fahrt in die Zeit, die Inge Werth festgehalten hat, auf tausenden Fotografien eine Umbruchszeit, seinerzeit. Rund 100 Schwarzweißaufnahmen sind jetzt im Museum Giersch zu sehen, in einer der hocheleganten Gründerzeitvillen in Frankfurt, direkt am Main.
Welch’ ein wohltuendes Gefühl, hier. Denn durch Jugendstiltüren, über Parkett und eine Holztreppe erreichen Besucher oder Besucherin die Ausstellung – um vor einem großformatigen Foto zu stehen, aufgezogen an der Stirnwand des Vorraums. Von hier aus der Zutritt zu der Promenade: „Paris, Frankfurt am Main und die 1968er Generation“. Es ist kein Foto, das vor den Kopf stößt. Denn die Protagonisten scheinen unsicher.
Wenig revolutionäre Haltung
Die Protestierenden wissen nicht so recht, auch wenn die Abgebildeten ein Transparent tragen, auch wenn sie Solidarität mit der amerikanischen Politaktivistin Angela Davies versprechen, auch wenn sie „Freiheit (für) alle politischen Gefangenen“ fordern. Einige der Abgebildeten haben die Hände in den Taschen. Eine wenig revolutionäre Haltung. Einer hält eine Aktentasche wie ein Anhängsel am Arm, irgendwie überflüssig geworden, braves, blödes, bürgerliches Utensil. Einige schauen nach rechts, lachen, da muss, außerhalb des Bildes, etwas sein. Was da amüsiert, bleibt ein Geheimnis.
Ein Schnappschuss. So sehr Akteure und Aktivisten ihrer Sache (Freiheit, selbstbestimmtes Leben) sicher waren, da war noch was. Dass das Foto das auch heute, nach 50 Jahren zeigt, spricht für das Foto. Die entschlossene Generation zeigt sich als innehaltende Gemeinschaft. Es ist ein ikonografisches Bild in einer Chronik nicht nur der laufenden Ereignisse, des Anrennens, des Ansturms, sondern der Irritation. Was tun?
Für die Fotografin Inge Werth, die 1968 bereits 37 Jahre alt war, ist es die erste museale Präsentation. In den kleinen Kabinetten der Ausstellung sind die Aufnahmen an grauen Wänden befestigt, die Abzüge nackt angebracht worden, ohne Rahmen, ohne Passepartout. Sieben Stationen umfasst die Ausstellung, angefangen mit einem Kapitel aus der Vorgeschichte von 68, der Ostermarschbewegung. Zur Veranstaltung auf dem Frankfurter Römerberg, zur Demonstration gegen den Vietnamkrieg und nicht nur diesen Krieg, reiste auch Joan Baez an.
We shall overcome.
Das war der Plan.
Inge Werth zeigt die Frau als das edle Gesicht der Antikriegsbewegung, als Ikone der Friedensbewegung, mit großen Augen, besorgt, eine Spur verängstigt, auch hier liegt die Ursache der Emotionen außerhalb des Bildes. Aber der Kontext ist doch vollkommen präsent. Da war noch was.
Die Generation 68 hat es der Vorgängergeneration schwer gemacht. Inge Werth hat allerdings die Vorbilder aus einer anderen Vätergeneration immer wieder gezeigt, den 1968 70-Jährigen Herbert Marcuse oder den 62-Jährigen Wolfgang Abendroth. Auch abgebildet ist Heinrich Böll, Jahrgang 1917, der sich bekanntlich von den antibürgerlichen Affekten radikaler 68er nicht einschüchtern ließ, sondern zivile Umgangsformen und Bürgerlichkeit lebte.
Das würde ich noch differenzierter sehen.
Dann aber mal raus mit der Sprache!
Na, man denke nur an die kölsche Mentalität als subversivem Element.
Ebenfalls abgebildet Jürgen Habermas, Jahrgang 1927. Am 12. 12. 1968 steht er am Pult, in einem überfüllten Hörsaal, in einer aufgeladenen Atmosphäre. Das Foto zeigt, wie er mit der linken Hand argumentiert, so entschieden wie zugleich beschwichtigend. Habermas‘ Kommunikationsangebot appellierte in einer auf Krawall gebürsteten Atmosphäre an die Vernunft, plädierte für die Fortsetzung des Wissenschaftsbetriebs. Wie er da leicht verkrampft stand, stand er gegen ein Autodafé der Aufklärung ein, gegen die Bildungsstürmerei durch den wild gewordenen Kleingeist von Umstürzlern.
Hochschulreform oder Buchmessereform: Die Ausstellung liefert keine lückenlose Geschichte von 68, will sie auch gar nicht. Sie gibt Einblicke in den Geschlechterkampf, sie liefert Schlaglichter vom Generalstreik in Frankreich. Inge Werth war dabei, als in Paris der Sturm auf die Bastion des Staatspräsidenten de Gaulle geprobt wurde und für diesen bedrohliche Ausmaße annahm. Tumulte auf den Straßen.
Auch aus Frankreich versorgte Werth ihre Abnehmer mit Fotos von Barrikaden, mit Ansichten von Pflastersteinen, aufgeschichtet auf den Straßen des Quartier Latin, um sich zu munitionieren. Zu sehen sind umgestürzte PKW, bürgerliches Privateigentum, das angesteckt und ausgebrannt war. Exzesse einer Kulturrevolution. Nicht im Bild deren damalige Leitkultur: Gewalt gegen Sachen, offenbar legitim.
Inge Werth hat in sogenannten bürgerlichen und ausgesprochen antibürgerlichen Blättern ihre Fotos untergebracht – und wenn in der Ausstellung überlichtete Fotos oder unscharfe oder verrutschte Perspektiven zu sehen sind, dann kann man sich lebhaft vorstellen, wie sehr diese neue, radikal andere Sicht, noch dazu einer Frau, für äußerst lebhafte Kontroversen in den Redaktionen gesorgt haben dürfte.
Kulturhistorisch aufschlussreiche Zeitdokumente
Noch die ästhetisch nicht gelungenen Fotos sind kulturhistorisch äußert aufschlussreiche Zeitdokumente. Für die Fotos von Werth sprach die Unmittelbarkeit, irgendwann wurde auch Authentizität, einmal entdeckt, zum schlagenden Argument, da mochten die Vertreter der alten Schule oder der Foto-Akademien, noch so sehr die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Aber noch mal der Satz: Inge Werth hat in sogenannten bürgerlichen und ausgesprochen antibürgerlichen Blättern ihre Fotos untergebracht – und nicht allein die antibürgerlichen waren aggressive Kampfblätter, auch die bürgerlichen waren unbeirrbar Tendenzblätter, ob die FR oder die FAZ, in denen Werth veröffentlichte.
Die Szene konnte ein Go-In sein, Werth zeigte das was, das war ihre Stärke, unübersehbar. Anders als nicht nur mancher Leitartikel, sondern bereits die eine oder andere Schlagzeile sagten die Fotos nicht, was der Betrachter gefälligst zu denken habe, sondern worüber sich nachdenken ließe. Über Heimerziehung, über Fürsorgezöglinge.
Du erinnerst dich an die Passage in Eva Demskis „Den Koffer trag ich selber“?
Wie manche Umstürzler die „Staffelberger“, die Insassen der Erziehungsanstalt Staffelberg adoptierten. Und wie sie die ihnen anvertrauten Fürsorgezöglinge in der Öffentlichkeit „wie fremde Tiere hielten“.
Inge Werth ging es nicht um Meinungsmache, sondern um Ansichtssachen, auch zu einer Eltern-Kind-Kommune. Im Bild viel zerbrochenes Mobiliar, Kinder in offenbar bewusst nachlässig gestalteten Verhältnissen, Müll im Hintergrund. Also doch Meinungsstärke, wenn wir es recht bedenken. Trotz des offensichtlichen stoischen Blicks, wie er auch aus den wenigen Fotos über eine Gastarbeiterfamilie spricht, untergebracht in einem Westend-Haus in Frankfurt, bedroht von der Immobilienspekulation. Inge Werths so unmittelbarer wie ruhiger Blick macht eine bedrückende Ratlosigkeit als empörende Rechtlosigkeit anschaulich. Häuserkampf? Eistenzkampf!
Ohne Stativ bewegte sie sich durch die von ihr aufgesuchten Szenen, und sie tat es auf Augenhöhe mit ihren Objekten, jedenfalls in den meisten Fällen.
Du denkst an die Ausnahme Joan Baez? Zum Aufschauen.
Oder das Habermas-Foto, leicht von unten nach oben, auch so ein Fall.
In der Regel keine artifiziellen Perspektiven. John Mayall besuchte die Schülerzeitschrift „Underground“, alles brav. Albert Mangelsdorff mit seiner Posaune; Jimi Hendrix in Rückenansicht; Volker Kriegel vor einem Flokatiteppich; die Finger Jimmy Smiths auf seiner Orgel. Der Zeitgeist sprach aus Fotografien, die den Zeitgeist artikulierten.
„Experimenta“ und Buchmesse, Römerbergespräche oder die Performance des Sexgurus Otto Mühl, für die der Galerist Adam Seide seine Privatwohnung zur Verfügung stellte. In besonderer Weise schlug 68 aber die Stunde der Frauen und dazu gehörte, dass sich auch in Frankfurt und durch Frankfurt die Frauen anders bewegen, lockerer, legerer, selbstbewusster, auch herausfordernder. „Das Weib sei willig, dumm und stumm,/ Diese Zeiten sind jetzt um.“
Auch in Frankfurt gründete sich ein „Weiberrat“, und die Geschichte des Aufbruchs wäre sicherlich anders geschrieben worden ohne die Fotos von Inge Werth, nicht zu vergessen auch diejenigen von Barbara Klemm und Abisag Tüllmann. Man darf wohl sagen, dass die Dokumentation von 68 in Frankfurt in den Händen von drei Fotografinnen lag. Vielleicht ein Anlass für eine Gemeinschaftsausstellung der glorreichen Drei, etwa in der Schirn oder im MMK 2?
Wie auch immer, im eindringlich gediegenen Museum Giersch kommt es zur Begegnung mit einer Generation, die die Renitenz auf ihre Fahnen schrieb, und die beides, wie zu sehen, vor sich hertrug. Dass sich das Fotomaterial auch zur Historisierung eignet, ist womöglich für den einen oder anderen Rebellen nicht ganz einfach zu verkraften. Offenkundig auch die eine oder andere Wiederentdeckung – für einen Daniel Cohn-Bendit Wiederbegegnung mit sich selbst? Fünf Fotos führen vor, wie gerne er sich lässig gab, salopp posierte. Wohl kein Politiker in ganz Europa, der über den Zeitraum eines halben Jahrhunderts ein solcher Poseur gewesen wäre, ob als Straßenkämpfer oder auf dem heimischen Sofa. Sind wir uns da einig?
Sag das nicht!
Also gut, ich überlege noch mal.
Aber wir sind uns doch einig, dass es in dieser Ausstellung zur Wiederbegegnung einer Generation mit sich selbst kommt. Wie viele werden sich in dem einen oder anderen Foto zu identifizieren wissen. War man nicht vollkommen verpennt, gehörte man zum 68er-Establishment.
Aber da war noch was, denn hier und da wurde Abstand gewahrt. Wer sich frohgemut zeigt, direkt in der ersten Reihe, ist Eva Demski. Sie war dabei, wie man weiß, auch als Journalistin. Doch so sehr sie vorneweg marschierte, so war sie doch nicht mittendrin in der Masse. Lachend hält sie auf dem Foto Distanz.
Da war noch was. Autonomie, das große Wort, das wahrscheinlich anspruchsvollste seit den Anfängen des bürgerlichen Zeitalters, gerann nicht überall zu einem Schlagwort. Wurde, mitten im Wir-Gefühl, hier und da auch gelebt, in Würde.
Museum Giersch, Frankfurt: bis zum 14. Oktober. www.museum-giersch.de