Hopper und Alte Meister: Blick nach innen, Blick nach außen

War der große US-amerikanische Maler Edward Hopper ein Ururenkel der Alten Meister? Eine faszinierende Ausstellung in der Dresdner Gemäldegalerie liefert gute Argumente dafür.
Gedankenversunken blickt die einsame Frau im hochgerutschten Nachthemd, die Oberschenkel entblößt, die Arme auf den Schienbeinen, ins hereinfallende Licht. Das der aufgehenden Sonne, wie der Titel des Bildes besagt: „Morning Sun“.
Der Blick der Frau ist vom Bett aus auf das große Fenster des Raums – ein Hotelzimmer vielleicht? – gerichtet. Dieses Fenster ist es auch, welches das Bild gleichsam metaphorisch unterteilt: in das Drinnen und ein Draußen, wo es nur ein ziegelrotes New Yorker Dachgeschoss, eine Dachlandschaft mit typischem Wassertank und ein Stück Himmel – oben blau, unten dunstig – zu sehen gibt, mehr nicht.
Es ist eines der Hauptwerke Edward Hoppers aus dem Jahr 1952, aus der Ära der Nachkriegsmoderne, die in den Vereinigten Staaten ja eigentlich in die Abstraktion führte. Dieser 1882 geborene, 1967 verstorbene New Yorker Maler aber verstand sich zeitlebens als Realist, er blieb bei der Figur und der Gegenständlichkeit. Damit schwamm er allerdings gegen den damaligen Mainstream des betont maskulinen Abstract Painting um die Starkünstler Willem de Kooning und Jackson Pollock. Dennoch war Hopper sehr erfolgreich, denn die Betrachter fanden sich wieder bei ihm: in seinen Motiven, wegen der das Vertraute tilgenden Industrialisierung der Landschaften Amerikas, und in seinen Protagonisten, die in dieser Umgebung häufig wie deplatziert wirken, entfremdet von der Außenwelt, aber auch von sich selbst.
Könnte man nun sagen, Edward Hopper sei ein gesellschaftskritischer, ein dem kapitalistischen Fortschrittsglauben gegenüber skeptischer Maler gewesen? Hoppers eher philosophische Antwort lautete: Ihm gehe es „um die reiche Welt der Psyche“.
Das Bild gehört dem Columbus Museum of Art in Ohio und durfte ausnahmsweise verreisen, über den Atlantik, als Leihgabe an Dresden. Besser noch – ins Allerheiligste der Elbestadt, in die Gemäldegalerie Alte Meister, wo Raffaels „Sixtinische Madonna“ hängt, Giorgiones „Schlummernde Venus“, Tizians „Zinsgroschen“, Rembrandts „Trinkbild mit Saskia“ und Vermeers „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“. Weltkulturerbe allesamt.
Edward Hoppers „Innere und äußere Welt“, so der Titel der Dresdner Ausstellung rund um das gastierende Gemälde, entdeckt Gemäldegaleriedirektor Stephan Koja auch in etlichen Alten Meistern seiner einst von August dem Starken und dessen Sohn August III. angelegten Bildersammlung, insbesondere in denen der alten Holländer. Koja kam mit seinen Recherchen und Vergleichen zu dem Schluss, dass Hoppers Interesse speziell an der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts durch Reisen in Europas Metropolen – nach Paris, Amsterdam, London, Berlin – Anfang des 20. Jahrhunderts geweckt worden sei. Auch in den Museen seiner Heimatstadt hat der New Yorker, als Kunststudent wie in späteren Jahren, die niederländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts intensiv studiert, vor allem im Metropolitan Museum. Nicht zuletzt entstammte Hopper einer ursprünglich holländischen Familie, die im sogenannten Goldenen Zeitalter sogar einen Bürgermeister von Amsterdam stellte. Und er wuchs in der New Yorker Hafenvorstadt Nyack am Hudson River inmitten holländischer Einwanderer auf.
So reifte in Direktor Koja die These, dass auch dieser Amerikaner eigentlich wie ein Alter Meister sei. Hoppers melancholische Einsamkeitsmotive, sein Markenzeichen, zählen zum Kulturerbe der USA. Seine Malerei wurde zum Inbegriff der amerikanischen Weite, der Verlorenheit und Introspektion inmitten des anonymen Großstadtalltags. Der Realismus von „Morning Sun“ ist einer der Essenz, wie bei allen seinen Bildern, in kühlen Farben und im figurativen Stil, wobei er wie kein zweiter seiner Zunft die Stimmung einer unsentimentalen Schwermut einfing. Bestsellercover wie Vicky Baums „Menschen im Hotel“ wurden mit Hopper-Motiven versehen. Und von seinen wie in der Bewegung angehaltenen Szenen – Filmstills nicht unähnlich – ließen sich Regisseure wie Alfred Hitchcock und Wim Wenders inspirieren.
Auffällig ist tatsächlich die Verbindung Hoppers vor allem zu Vermeer, wegen der faszinierenden Situation der Stille, der Isolation. Beide Szenen – die Frau in der Morgensonne auf dem Bett und das Mädchen mit dem Brief am Fenster – knistern vor Spannung. Doch nichts geschieht. Der Ausgang der Story bleibt offen. Nur peripher wurde dieser merkwürdige Kontext bislang in der Kunstwissenschaft erwähnt. Nun verortet die Dresdner Schau Hopper in der altmeisterlichen Traditionslinie, ergänzt die kühne These des Ausstellungsmachers Stephan Koja mit lichtspielerischen Zeichnungen Hoppers aus dem New Yorker Whitney Museum und Grafiken aus der Albertina Wien, dazu kommen Blätter Alter Niederländer aus dem Dresdner Kupferstich-Kabinett.
Eine besondere Rolle kam bei Hoppers Studien wohl dem Licht zu. Gerade bei Rembrandt und bei Vermeer hat das Licht eine fast spirituelle Bedeutung; bei Hopper indes wirkt es unheilig, schonungslos. Er setzte auf seine Leinwände hartes Licht, fast wie die Veristen der Neuen Sachlichkeit.
Und doch spricht zugleich das Altmeisterliche mit – der Verweis auf etwas Größeres, Universelles. Auf eine ordnende Macht. Auch im „Morning Sun“-Motiv ging es Hopper ums Licht, um dessen Quelle – die sich aber nur außerhalb unseres Sichtfelds erahnen lässt. Sie ist das verbindende Element zwischen den beiden Sphären des Gemäldes, dem „Außen“ und dem „Innen“. Hopper verriet das durch die Wiederholung des Fensters, gespiegelt als Lichtfläche an der grünen Wand hinter der Frau und dem Spiel des Schattens auf ihrem Körper. Hier folgte Hopper der langen Tradition der Lichtsymbolik in der Kunst. Und er brach zugleich mit ihr.
Denn bei ihm suggeriert das einfallende Licht, anders als in sakralen Altmeistergemälden, nicht etwa Geborgenheit, feierliche Wärme oder gar etwas Heilendes. Vielmehr verschafft sich etwas Befremdliches und Kaltes Zugang zur vermeintlichen Sicherheit in der Sphäre des Privaten. Die fahle Morgensonne kommt eher als Eindringling. Jedoch absichtslos, wie gleichgültig. Es ist, als habe der Maler in visueller Lakonik den Bibelspruch aus dem Matthäusevangelium zitiert, wo es heißt, Gott lasse die Sonne scheinen über Gute und Böse und lasse es regnen über Gerechte und Ungerechte.
Es ist dieses Spiel mit Ambivalenz und Suspense, mit dem es Edward Hopper auch heute noch, im Jahr 2022, gelingt, uns ein Gleichnis des entfremdeten Menschen vorzuhalten, inmitten all der zugleich nahen und weit entfernten, schier unendlichen Möglichkeiten der modernen Welt.
Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden: bis 31. Juli. gemaeldegalerie.skd.museum