Hermann Nitsch: Für ihn sollte das Leben ein Fest sein

Er polarisierte wie nur wenige, aber seine Anhänger liebten ihn. Zum Tod von Hermann Nitsch.
Es ist nun mehr als zwanzig Jahre her, dass Hermann Nitsch nachts in Frankfurt auf einer Verkehrsinsel stand, umringt von Studenten und Studentinnen und anderen Anhänger:innen und in einer Mischung aus Ungeduld und Belustigung dem Treiben der Polizei zusah.
„Schon wieder“, sagte einer, der das Brimborium schon kannte. „Immer das Gleiche“, pflichtete ein anderer entnervt bei. Es hatte eine Bombendrohung im Portikus gegeben, weil dort Videos von Nitschs „Orgien-Mysterien-Theater“ gezeigt werden sollten (was schließlich, wenn auch erst Stunden später, auch geschah). Im Vorfeld wurde kolportiert, man sehe dort eine aufgeschlitzte Knabenleiche, deren Geschlechtsteile „zerfleischt“ würden. Natürlich war das Humbug, aber die Kunst von Hermann Nitsch war stets für einen Skandal gut.
Bereits 1963 hatte der Österreicher, der 1938 in Wien geboren wurde, gemeinsam mit seinem Landsmann Otto Mühl für zwei Wochen im Gefängnis gesessen, weil sie einen Lammkadaver gekreuzigt und Nitsch sich mit Eingeweiden beschmiert hatte. Der Wiener Aktionismus war geboren; es hagelte Haftstrafen wegen „Herabwürdigung österreichischer Symbole“ oder „Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit“. Begonnen hatte Nitsch als Gebrauchsgrafiker, doch das war ihm offenbar zu blutleer.
„Rettet den Wein“
An besagtem Abend in Frankfurt, es war zwanzig Minuten nach eins in der Nacht, die Straße gesperrt, den Menschen war kalt, dachte Hermann Nitsch zum Glück an das, was die Leute bei Laune hält. „Rettet den Wein“, rief der Künstler gerade noch rechtzeitig, und man tat, wie er geheißen. Nitsch stand nun da, trank Wein und schimpfte, dass das doch wirklich Tierquälerei sei, die armen Hunde da drin nach Sprengstoff schnüffeln zu lassen.
Es hätte schließlich sein können, dass es diesmal jemand ernst meinte. Bloß warum sollte jemand Bomben legen, wegen Videos, auf denen zu sehen ist, was vor Jahrzehnten schon so oder ähnlich zu sehen war? Eine Inszenierung, in der das Blut ein wesentlicher Bestandteil ist. Das „Orgien-Mysterien-Theater“, für das Nitsch so berühmt war, war außerdem alles andere als brutal. Sicher: Es kamen tote Tiere drin vor, es wurden Kreuze getragen und daran waren Menschen befestigt, die obendrein nackt waren.
Andererseits: Wer in Oberammergau während der Passionsspiele ein Schnitzel bestellt, hat die gleichen Bestandteile. Ohne die obligatorische Entrüstung. Denn, nein, bei Nitsch wurde nicht sodomiert und, nein, es wurde auch niemand massakriert. Die paar Tiere, die bei seinen Aktionen geschlachtet wurden, wären sowieso geschlachtet worden. Das kann man schlimm finden, allerdings nur als Vegetarierin. „Ich liebe Tiere“, betonte Nitsch immer mal wieder, und fügte dann gerne hinzu, dass er zwanzig Pfauen besitze.
Einem Verzeichnis im Internet zufolge hat es inzwischen 158 Aktionen mit dem Titel „Orgien-Mysterien-Theater“ gegeben, manche fanden in Wohnzimmern statt. Spektakulär waren vor allem die sogenannten Sechs-Tage-Spiele auf seinem Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf. Zuletzt 1998, zwei Jahre vor dem Ereignis im – oder besser – vor dem Portikus. Nach einer 1700 Seiten starken Idealpartitur feierte Nitsch mit seinen „Jüngern“ ein orgiastisches Happening mit Musikbegleitung und 13 000 Litern Wein. Jene, die dabei waren, schwärmen bis heute davon.
Damals demonstrierten Tierschützer:innen und Katholiken und Katholikinnen prangerten Gotteslästerung an. In Frankfurt hatte man sicherheitshalber zwei Wachmänner engagiert. Zu sehen waren schließlich sieben Monitore, die 24 Stunden lang (unterbrochen nur von der Aktion mit den Sprengstoff-Hunden) eine Videodokumentation des Sechs-Tage-Spiels von Peter Kasperak zeigten. Und zwar simultan. Der Opulenz wegen. Zu hören waren Blasmusik, Glockengeläut, Gonglaute, Choräle, kein Tierbrüllen.
Zu sehen war vor allem Rot. Das Rot kam vom Blut, aber mehr noch von den Trauben und Tomaten, die freudig zertrampelt wurden, denn Nitsch ging es stets um die Freude am Dasein, das Vergnügen an der Sinnlichkeit. Man sah Hände ekstatisch in Gedärmen wühlen, Menschen, die wie im kollektiven Rausch mit Trauben um sich schmeißen. Blutrausch wäre allerdings zu viel gesagt. Es ging um ein Gemeinschaftserlebnis, darum, etwas zu spüren und auszukosten. „Das Leben soll ein Fest sein“, meinte Nitsch und fand dafür archaische Bilder.
Blut strömte auch an Körpern herab, allerdings wurde niemand verwundet, sondern lediglich bespritzt und bemalt. Für Nitsch, der ja auch Maler war, waren es Bilder. Bilder der Lust, des Lebens. Aber natürlich ging es auch um den Tabubruch, die Vertreter der katholischen Kirche fühlten sich nicht völlig zu Unrecht auf den Schlips getreten. Er habe jedoch, und das war ihm wichtig, nie schockieren wollen. Worum es ihm ging, war vor allem: Intensität.
Plastikfolie an den Wänden
Als Hermann Nitsch 1989 als Professor an die Frankfurter Städelschule berufen wurde (er lehrte dort bis 2003), war das begleitet von massiven Protesten. Es dauerte Jahre, bis sich die Aufregung legte. In den vergangenen Jahren allerdings wurde sein Lebenswerk zunehmend von renommierten Häusern geschätzt. Bereits 2005 durfte der Künstler im Wiener Burgtheater bei einer Aktion mit Blut spritzen. Natürlich deckte man Sitze und Wände vorher mit Plastikfolie ab. Er inszenierte auch die Gandhi-Oper „Satyagraha“ in St. Pölten, „Faust Szenen“ in Zürich. Voraussetzung war für ihn ein Bezug zu seinem künstlerischen Werk. 2021 folgte eine Malaktion auf offener Bühne bei den Bayreuther Festspielen, als Teil einer halbszenischen Produktion von Richard Wagners „Walküre“.
Nitschs Werke sind in zahlreichen renommierten Sammlungen vertreten. Außerdem tragen zwei Museen in Mistelbach und in Neapel seinen Namen.
Das nächste Sechs-Tage-Spiel ist für den 25. Juli geplant. Hermann Nitsch wird es nicht mehr erleben. Am Montag starb er im Alter von 83 Jahren in einem Krankenhaus in Mistelbach, in der Nähe seines Schlosses nördlich von Wien. Stattfinden soll die Aktion trotzdem. Nicht anders hätte Nitsch es gewollt.