Gregor Sailers Fotografien: Was nach dem Eis kommt

Begehrlichkeiten im schmelzenden Norden: Der Österreicher Gregor Sailer hat entlang der „polaren Seidenstraße“ fotografiert
Gregor Sailer macht den Eindruck, dass kein Hindernis ihn und seine Kamera schreckt, auch nicht minus 55 Grad, wo bei einem Menschen ohne Atemmaske nach 20 Minuten die Lunge kollabieren würde. Der 42-jährige Österreicher, drahtig und im grauen Berliner Winter mit einer Gesichtsfarbe, als wäre er gerade in den Alpen bei prallem Sonnenschein Ski gefahren, ist seit langem das, was romantische Naturen einen Abenteurer nennen würden. Einen, den das Überleben von Fauna und Flora in den unwirtlichsten Landschaften der Erde interessiert.
Und nun gibt es von ihm eine ganz neue Langzeit-Serie: Vor fünf Jahren, so erzählt er den Gästen der Ausstellung der Reihe „The Polar Silk Road“ in der Berliner Alfred-Ehrhardt-Stiftung, begann ihn der „hohe Norden“ zu fesseln, das Polarmeer, die Arktis. Selbstredend hat er alles über Polarforscher gelesen: Amundsen, Nansen, Rasmussen, Fuchs ... Aber das romantische Klischee vom „True North“ hatte er nie im Kopf, nicht die angeblich unberührte krasse Eislandschaft, auch nicht die tanzenden Polarlichter. Der Mythos des Nordens wurzelt bekanntlich in der Romantik – als imaginäres Gegenbild zur zivilisatorischen Entzauberung der Welt. Nehmen wir nur Caspar David Friedrichs Gemälde „Eismeer“, das freilich den ernüchternden Untertitel „Gescheiterte Hoffnung“ bekam. Was daran erinnert, dass die Romantik niemals ein Stil, sondern eine Geisteshaltung war.
Bei extremen Temperaturen und unter widrigen Umständen schoss Sailer in meist ganz kurzen Zeitfenstern Fotos in krassen Gegenden, die uns sonst verborgen, die für die Welt quasi unsichtbar bleiben müssen. Sailer spricht von Orten in Kanada, Norwegen, Grönland und Island, geografische und topografische Punkte, mit denen er die künftigen neuen Handelsrouten, die „polare Seidenstraße“ fotografisch dokumentierte. Das heißt auch, er hatte mit Geheimdiensten, Polizei- und Militärbehörden zu tun, um die Zutrittsgenehmigungen etwa auch zu Nato-Sperrgebieten entlang der Arktis zu ergattern. Und er hat teils jahrelang auf die Genehmigungen warten müssen, dort fotografieren zu dürfen. Russisches Polarareal bleibt ihm verwehrt. Das sei nun aussichtslos, jetzt, vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, sagt er. Aber er lasse sich nicht deprimieren, setzt er hinzu. „Ich brauche eine langen Atem, und das Scheitern droht ja immer.“
Jetzt hängen seine Fotos, zusammen mit Landkarten, auf denen die vier „polaren Seidenstraßen“-Routen eingezeichnet sind, an den Wänden der Stiftung. Über die Arktis führt inzwischen eine transpolare Route, eisfrei durch den Klimawandel und heftig gefragt, „weil sie viel schneller und billiger ist, als die Wasserwege über den Suezkanal“, erklärt der Fotokünstler.
Er machte menschenleere Aufnahmen. Scheinromantisch ist diese splittrige Eisschollenfläche bei Nacht. Am Horizont leuchten gespenstisch Gebäude, die ein Industrie- und ebenso ein militärischer Komplex sein könnten. Im gleißenden Weiß von Eis und Schnee stehen braune Container und seltsame, elliptisch geformte Behälter, wohl Tanks, davor ein riesiges rosafarbenes Iglu, Therme, Behausung oder Messstation? Grafische Qualität hat eine Fotoreihe mit laublosen Bäumen, die Stämme, Äste, Zweige ragen in eine Winterwelt, für unsere schneelosen Breiten schon fast unwirklich. Doch dann baut sich eine riesige Hallenwand auf, hinter der sich wohl ein Nato-Luftabwehrsystem verbirgt.
Die neuen Transportrouten über den Nordpol versprechen massive ökonomische Vorteile für die Großmächte. Derweil versinken die von der Natur gezogenen Grenzen gegen die Interessen und die materielle Gier der Menschen im steigenden Meerwasser der schmelzenden Gletscher. Die zum Polarkreis verlegte mythische Seidenstraße von Asien in die westliche Welt ist hier oben, wegen der Erderwärmung nicht mehr im ewigen Eis, von militärischer Aufrüstung geprägt, von deren Infrastruktur und auch von notwendigen Forschungsstationen.
Umgeben von dieser unwirklichen Landschaft lässt sich auf Sailers Fotos kaum verbindlich sagen, ob es sich im jeweiligen Motiv um eine militärische Anlage, ein Kraftwerk, eine Abhör- oder eine Forschungsstation handelt. Diese menschengemachten Bauten setzten architektonische Spuren ins – noch – vorhandene Eis. Doch das schmilzt, wird zu nie gekannten, fürs biologische Gleichgewicht der Mutter Erde fatalen Wasserstraßen. Und die wecken Begehrlichkeiten. Also bringt sich jeder Anrainerstaat, das berichten Gregor Sailers unromantische, doch zugleich faszinierende Fotos, am Polarkreis in Stellung; man demonstriert seinen Anspruch. Und ein Subtext dieser Bilder von Polarmeer und Nordpol gilt gerade dem so unendlich weit entfernten China. Die atomare Großmacht sieht schon ihre neuen Handelswege über den nördlichen Seeweg. Die kommunistische Diktatur investiert bereits astronomische Summen ins knallharte Macht-Geld-Geschäft „Polar Silk Road“.
Alfred-Ehrhardt-Stiftung, Auguststr. 75 in Berlin: bis 2. April. Fotografien auch im Netz unter www.gregorsailer.com

