Gerd Harry Lybke und 40 Jahre Galerie Eigen+Art – Die Zeit, die Kunst eben braucht

Die Galerie Eigen+Art von Gerd Harry Lybke feiert ihren 40. Geburtstag – eine Erfolgsgeschichte Ost.
Selbstredend hat sich’s festgetreten wie ein Kaugummi an der Schuhsohle: Der berühmteste Galerist des deutschen Ostens war einst Nacktmodell. Wegen einer Vorgeschichte. Der junge Leipziger Maschinenbauer hatte es ausgeschlagen, nach der NVA-Zeit, die er wegen einer selbst geschriebenen Losung „Macht Liebe, nicht Krieg“ zur Strafe in der Kasernen-Bibliothek zubringen musste, „zur Bewährung“ in der Sowjetunion Kraftwerks-Energie zu studieren. Sein Praktikum hätte er im AKW Tschernobyl absolvieren müssen. Gerd Harry Lybke lehnte ab – und bekam Studien- und Arbeitsverbot.
Er wurde nicht Friedhofsgärtner wie andere Geächtete, sondern „freischaffendes“ Aktmodell. „Judy“, wie ihn seine Freunde schon immer nennen, stand frierend im kalten Zeichensaal des Abendkurses der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Um ihn herum an ihren Zeichenblöcken junge Autodidakten, die der Staatsmacht als politisch unsichere Kantonisten galten. Darum waren sie nicht zum Direktstudium zugelassen, viele wollten es auch gar nicht. Darunter auch die heute berühmten Brüder Olaf und Carsten Nicolai sowie Jörg Herold. Am 10. April 1983 gründeten die Freunde in Judys Altbaubude, Körnerstraße 8, ihre eigene Galerie: „Eigen + Art“.
Zu sehen war Kunst, die in keine offizielle Ausstellung gelangte. Das Publikum stand Schlange hoch zur Wohnungsgalerie unterm schrägen Dach. Natürlich hatte die Stasi diese autonome Szene im Auge, traute sich aber nicht hoch, „weil ich da ja auch als Nacktmodell performte. Das war wie Räuber und Gendarm spielen“, so Lybke. Und „das Galerie-Kollektiv, all diese Loser in den Augen der Funktionäre, hat sich geschickt, nie aktionistisch verhalten“.
Von Anfang an Profis
Es wurde in den Räumen auch keine Kunst verkauft, das durfte in der DDR nur der staatliche Kunsthandel. Aber die Eigen+Art-Leute verbandelten sich mit der etablierten Leipziger Szene, mieteten bald eine kleine Fabriketage der einstigen Firma Rohrer & Klinger in der Fritz-Austel-Straße. Ihre erste Schau hieß „Die Neuen Unkonkreten“. Alles war von Anfang an professionell organisiert: reguläre Öffnungszeiten, der Siebdrucker Hartmut Tauer sorgte für exzellent gestaltete Einladungen, Plakate und Kataloge. Bald war der Ort derart anerkannt, dass die Behörden ihn dulden mussten.
Dann kam die Wendezeit, die Mauer fiel. 1990 für Eigen+Art zur Messe nach Frankfurt am Main. Mit Ostgeld. Und dann nach Basel, mit einem W50-LKW inklusive Schlafmatratzen und Kochstelle. „Die Westmark hatte ja noch keiner. Aber Arend Oetker, damals Chef des Dr. Oetker Konzerns, hat für uns gebürgt“, erzählt der Galerist. Damals stellte er ausgerechnet Bilder der Schweizerin Annelies Štrba aus, „aber die Eidgenossen hielten die Künstlerin für eine Ostdeutsche, guckten nur, kauften nicht“.
„Doch wir wurden mutiger“, so Lybke. „Ende 1990 machten wir temporär eine Galerie-Station in Tokio, im Jahr darauf in Paris.“ Und 1992 begann das Abenteuer Berlin in einer ehemaligen Wäscherei in der Auguststraße. Schräg gegenüber die alte Margarinefabrik, aus der Klaus Biesenbach später das Institut Kunst Werke machte.
Eigen+Art gab Gastspiele in New York und London. Fortan war die Galerie aus Leipzig und Ost-Berlin auf den wichtigen Messen der Welt vertreten. 2005 bespielte sie den israelischen, 2015 den deutschen und 2019 den mongolischen Pavillon auf der Venedig Biennale. Lybkes Künstler und Künstlerinnen, heute an die 40, waren an der Documenta, an Biennalen in Venedig, Berlin, Istanbul, Gwangju, dem Art Festival Sapporo oder der Yokohama Triennale beteiligt.
1993 kam auch Neo Rauch zur Galerie, nach der Jahrtausendwende der Maler-Star der „New Leipzig School“. Und nach und nach wurde Lybke der Galerist auch all der anderen Namhaften dieser aus dem Osten wie dem Westen stammenden Szene – Uwe Kowski, David Schnell, Tim Eitel, Martin Eder, Titus Schade, Kai Schiemenz, Christine Hill, Ricarda Roggan, Kristina Schuldt, Birgit Brenner, Stella Hamberg, Ulrike Theusner, Yehudit Sasportas und die Ukrainerin Lada Nakonechna – um nur einige zu nennen. Sie alle sagen über Judy Lybke das Gleiche: Er skaliert nicht, treibt nicht an. Es geht nicht um rasanten Output, er ist geduldiger Partner, Freund. Er lässt einem die Zeit, die es braucht für die Kunst.
Heute ist der Name Eigen+ Art eine Marke an drei Standorten mit 25 Leuten im Team: seit 2005 in der einstigen Baumwollspinnerei in Leipzig-Plagwitz, seit den Neunzigern in der Berliner Auguststraße. Und seit 2012 als Eigen+Art Lab in der Torstraße, Spielwiese und Entdeckerort.
„Kollektiv“ sei das Zauberwort, resümiert Lybke heute: „Es schweißt zusammen, auch aus der früheren Situation des Nicht-beachtet-Werdens.“ Heute ist alles, was zu Eigen+Art gehört, Ost-West-gemischt, ein eingespieltes Kollektiv, jeder spezialisiert. Und bereit, für die Kunst sozusagen durch den brennenden Reifen zu springen.