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Auf geraden Wegen zu unabsehbaren Wirkungen

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Marina Abramovic.
Marina Abramovic. © AFP

Die Performance-Künstlerin Marina Abramovic wird heute 70 Jahre alt und spielt immer noch mit ihrem Bild.

Von Dirk Pilz

Als Marina Abramovic 1992 für ein Jahr mit einem großzügigen Stipendium ausgestattet in Berlin lebte, ein geräumiges Atelier und eine schöne Charlottenburger Wohnung gestellt kam, erarbeitete sie ein „gewaltiges Theaterstück“, wie sie es nennt, das Stück „Biography“. Sie schuf es gemeinsam mit dem Londoner Videokünstler Charles Atlas, und es ging an diesem Abend um alles, was Abramovic ausmacht, was ihr wichtig und heilig ist: um ihr Leben und ihre Arbeit. Leben und Arbeit, sie trennt das nicht – ihr Leben ist immer ihre Arbeit. Also stellte sie mit „Biography“ ihre widerspruchsreichen Gefühls- und Gedankenwelten aus, also machte sie öffentlich, was gemeinhin für privat gehalten wird.

In ihrer soeben erschienen Autobiographie (siehe FR-Interview), dem einnehmend ehrlichen wie ungebremst eitlen, unbedingt aber lesenswerten Buch „Durch Mauern gehen“ (Luchterhand Verlag, 475 S., 28 Euro) erinnert sie sich an diesen Abend auch als „endgültige Unabhängigkeitserklärung“ von Ulay.

Tschüss Gefahr und Tränen

Ulay, das ist der deutsche Künstler Frank Uwe Laysiepen, von 1976 bis 1988 war er ihr Lebens- und Arbeitspartner. Und in „Biography“ gab es also diese Abschiedsszene von Ulay: Aus den Boxen Bellinis schmelzende Arie „Casta Diva“ aus „Norma“, dazu Abramovics Monolog: „bye-bye extremes, bye-bye intensity, bye-bye danger, bye-bye tears, bye-bye Ulay“. Tschüss ihr Extreme und du Intensität, tschüss Gefahr und Tränen, tschüss Ulay? Ach was. Sie spielte in „Biography“ auf frühere, berühmte Performances an, auf „Thomas Lips“ zum Beispiel, den Abend mit echten Messern und echtem Abramovic-Blut, das sie durch Stiche in die Hand fließen ließ.

Sie spielte auch mit dem Bild, das sich die Medienöffentlichkeit von ihr gemacht hat: „Harmonie, Symmetrie, barock, neoklassisch, rein, hell, funkelnd, High Heels, erotisch, widersprüchlich, große Nase, dicker Hintern, et voilà: Abramovic!“ Abramovic? Sie ist das alles und ist es nicht, weil sie nicht diesseits ihrer Kunst ist, weil sie alles radikal auf sich bezieht und doch gerade damit den Zuschauer in ihren ästhetischen Kosmos eingemeindet. Man kann über die Abramovic-Kunst nicht theoretisch, von außen sprechen, man kennt sie nur durch die konkrete, einzelne Zuschauer-Erfahrung.

Sie ist jetzt weltberühmt, nach vielen Anfeindungen und schiefen Unterstellungen. Vor sechs Jahren saß sie drei ganze Monate auf einem Stuhl im New Yorker MoMa schweigend einzelnen Besuchern gegenüber, eine Dreiviertelmillion Menschen haben das gesehen, und einmal nahm auch Ulay Platz. Es gibt einen Film darüber, genannt wie diese Performance: „The Artist is Present“, man sieht Ulay und Abramovic sitzen, schweigen, Tränen vergießen. Das ist die Abramovic-Kunst: auf geraden Wegen zu unabsehbaren Wirkungen. Wer immer bezweifelt haben mag, dass Kunst das Leben zu ändern vermag, wird von ihr eines Besseren belehrt.

Sie selbst hat sich über die Jahrzehnte auch verändert, hat sehr viel mit Schlangen gearbeitet und ihre Schlangenangst besiegt, hat sich unzählige Schmerzen zugefügt und das Schweigen gelernt. Heute wird die große Lebenskünstlerin Marina Abramovic 70 Jahre alt. Wir verneigen uns und grüßen.

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