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Fotograf Andreas Mühe in Frankfurt: Weiße Fratzen des Terrors

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Von: Lisa Berins

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Galerie Anita Beckers, Ausstellungsansicht, Andreas Mühe, „Brüder und Schwestern“, Foto © Wolfgang Günzel
Galerie Anita Beckers, Ausstellungsansicht, Andreas Mühe, „Brüder und Schwestern“, Foto © Wolfgang Günzel © Wolfgang Günzel

Der Fotograf Andreas Mühe konfrontiert die RAF mit dem NSU und gräbt an ihren gemeinsamen Wurzeln.

Sie müssen sich das vorstellen wie eine Theatervorstellung“, sagt Andreas Mühe, der mit seiner Hündin Ruby im Galerieraum steht. Aber was für eine Vorstellung soll das sein? Links die RAF-Terroristen Andreas Baader und Jan-Carl Raspe und die Terroristin Gudrun Ensslin, rechts die Mitglieder des NSU: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. Ein Showdown der Demokratiefeinde? Was passiert hier auf der Bühne, worüber wird verhandelt, was ist die Story?

Der Fotograf führt in den hinteren Raum der Galerie Anita Beckers. Dort beginnt die eigentliche Erzählung der Ausstellung „Brüder und Schwestern“, der Prolog, wie Mühe sagt. Die Schau ist zum Paulskirchenfest entstanden. Nachdem das Städel Museum dem Fotografen im vergangenen Jahr eine Ausstellung gewidmet hatte, war die Idee der Galeristin, eine kleine Schau zu machen, in der es, passend zum Anlass, um Demokratie gehen sollte. Mit „Brüder und Schwestern“ werde nun eine Diskussion angestoßen, findet Beckers. Es scheint Redebedarf zu geben; darüber, dass die deutsche Geschichte stärker als eine Geschichte zweier wiedervereinigter Teile wahrgenommen werden müsste, die beide ihre Narben und auch ihre Schuld weitgehend unverarbeitet vor sich hertragen - und damit bis heute antidemokratischen Tendenzen einen Nährboden bieten.

Im hinteren Teil der Galerie hängt eine Fotogramm-Serie. „Gottlob und Anna“ (2021) hat Mühe sie genannt, es sind die Namen seiner Urgroßeltern. Farbige, fröhlich wirkende Hintergründe, widersprüchlich zu den Motiven: 45 Seile, zu Stricken geschlungen, die um Menschenhälse gelegt werden können. In diesem Fall um die Hälse der Urgroßeltern. Sie waren kurz vor dem Krieg in die Uckermark gezogen, 1945 wurden sie – vermutlich von der Roten Armee, sagt Mühe – erhängt. Als der Großvater, ein Wehrmachtssoldat, aus der Kriegsgefangenschaft kam, habe er seine Eltern im Torbogen des Hofs hängen sehen.

Genau wisse man nicht, was vorgefallen sei, es sei auch nicht mehr zu rekonstruieren. Darum geht es offensichtlich auch nicht, denn Mühe hat intuitiv gearbeitet, wie er sagt. Er hat sich intuitiv an die Erkundung der Vergangenheit, der gesellschaftlichen Prägungen und des Ungesagten begeben. Das Grab der Urgroßeltern befand sich nicht auf einem Friedhof, sondern unter Tannen hinter der Scheune. In der Familie wurde erzählt, dass die Urgroßeltern Selbstmord begangen hätten, erzählt Mühe – denn in der DDR waren die Russen keine Mörder. Das familiäre Trauma lebte im Stillen fort - und es ist natürlich mehr als ein singuläres, es ist ein gesellschaftliches.

In der Reihe „Stahlhelm Oskar“ (2021) scheint der Helm des Großvaters im luftleeren Raum zu schweben. Hinter ihm wechselt eine Lichtquelle wie eine kreisende Sonne ihre Position, der Helm wirft einen Schatten auf den Grund. „Eine schwarze Wolke der Vergangenheit hängt über der Zeit nach 1945“, sagt Mühe dazu.

Auf der gegenüberliegenden Wand sind Fotos der Serie „Zweisamkeit“ (2021) zu sehen. Der Kamera abgewandte Menschen sitzen da eng – zu eng – beieinander. In einem dunklen, undefinierten Raum, in einem dramatischen Lichtkegel wird ein Alptraum sichtbar: Männer in Naziuniformen sitzen da, auf ihren Schößen brave Mädchen mit süßen Kleidchen und blonden Zöpfen, denen sie auf unangenehm intime Weise nahe kommen. Es seien Zuspitzungen von alten Fotos, auf denen Hitler mit Kindern abgelichtet wurde, sagt Mühe. „Die Schergen haben ihre Kinder dem ,Führer‘ dargeboten wie dem Papst.“

Immer wieder nimmt der Fotograf in seinen Arbeiten Bezug auf den Nationalsozialismus, kopiert die Ästhetik, übertreibt sie, nutzt sie, exponiert das Perverse daran; 2010/12 zum Beispiel in der Serie „Obersalzberg“. Und auch in „Zweisamkeit“ geht es nicht um Einzelschicksale: Es geht um die Last der Vergangenheit, die auf den Schultern einer Gesellschaft liegt, sie steckt in den Genen aller Deutschen - so jedenfalls sieht es Mühe. „Die Ausstellung hätte auch den Titel ,Hitlers Kinder‘ bekommen können“, sagt er. Sie heißt nun „Brüder und Schwestern“ – eine Familie sozusagen.

Auch die Neugeborenenbetten aus den Jahren 1945 und 1975 in der Serie „RAFNSU“ (2023) befinden sich in einem dunklen Raum, sie leuchten wie aus sich selbst heraus vor schwarzem Hintergrund. Es ist eine kalte Atmosphäre, klinisch, brutal, unheimlich. Kann hier eine behütete Kindheit beginnen, kann mit diesem kalten Start ein in der Gesellschaft aufgehobener Mensch heranwachsen? 

Mag sein – wahrscheinlich –, dass auch hier ein Stück weit Autobiografisches eingeflossen ist. Andreas Mühe wurde 1979 in Chemnitz geboren und wuchs in Ost-Berlin auf, in einer Künstlerfamilie. Als Kind erlebte er eine gespaltene Welt, in der sich ein Eiserner Vorhang vor viele Möglichkeiten schob. In der sich zwei politische Systeme bekämpften, die ihre eigenen Regeln und Unwahrheiten propagierten. Dann war die Mauer auf einmal weg. Wie sollen die Kinder – Hitlers Kinder – da Orientierung finden?

Bei einem Talk am Abend unterhält sich Mühe mit dem Germanisten Dirk Oschmann, der vor Kurzem das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ geschrieben hat. Der Begriff der „geistigen Obdachlosigkeit einer Generation“ wird eingeworfen. Oschmann meint damit zwar lediglich die Wendegeneration, aber der Begriff scheint durchaus auch gut auf die direkte Nachkriegsgeneration zu passen. Beide Generationen hätten, so Mühe, zwar in ihrer Ideologie unvergleichbare, aber eben sehr radikale Bewegungen hervorgebracht. „Beide Terrorgruppen waren Mörder“, sagt der Fotograf.

Es sind Unfähigkeiten und Gewalt, die einer positiven Entwicklung im Wege stehen. Mühe belichtet sie – wie immer mit seiner Großformatkamera. Auf seiner „Theater-Bühne“ in der Galerie Anita Beckers treffen nun also RAF und NSU aufeinander. Aber was heißt hier „aufeinandertreffen“? Die Mitglieder der Terrorgruppen sind alle unfähig zu handeln, denn sie sind tot – auch Zschäpe – und ihre letzten erschlafften Gesichtszüge verraten nichts über ihre brutalen Taten. Andreas Mühe hat Totenmasken der Terroristinnen und Terroristen anfertigen lassen (im Falle der NSU-Mitglieder sind sie fiktiv, und von einem Londoner Maskenbauer nur anhand von ein paar Fotos angefertigt worden). Mit geschlossenen Augen, in Weiß, fast unschuldig, hängen sie als Fotografien an den Wänden der „Bühne“. Es ist eine stumme Vorstellung. Die Hauptdarstellerinnen und -darsteller dieses beklemmenden Stücks – ganz offensichtlich befinden sie sich vor den Werken.

Andreas Mühe möchte das Thema weiterverfolgen, sagt er. Im Jahr 2025 wird Chemnitz europäische Kulturhauptstadt: eine geeignete Gelegenheit, um aus der stummen Aufführung eine begehbare Plastik zu machen.

Galerie Anita Beckers, Frankfurt: Bis 24. Juni.

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