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Documenta: Von Ländern und Schmerzen

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Von: Sandra Danicke

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The Black Archives aus Amsterdam zeigen Teile ihres Archivs zur Schwarzen Befreiungsbewegung. Foto: Sandra Danicke
The Black Archives aus Amsterdam zeigen Teile ihres Archivs zur Schwarzen Befreiungsbewegung. Foto: Sandra Danicke © Sandra Danicke

Die documenta fifteen lehrt uns Lockerheit und Gemeinschaft - und hält verdammt viele Informationen über das Leben auf diesem Planeten bereit.

Der Star der Documenta war vorher gar nicht angekündigt. Was irritierend ist und zugleich sehr konsequent. „In Kassel zeigt INLAND mit anderen zusammen das Potenzial landwirtschaftlich geprägter Ökonomien“, heißt es lapidar im Katalog. Und weiter: INLAND sei „eine kollaborativ ausgerichtete Para-Institution - eine Plattform, die sich mit Kunst, Territorium und sozialem Wandel beschäftigt.“ Man erfährt, dass INLAND von dem Spanier Fernando Garci-Dory gegründet wurde, dass es dem Kollektiv um Landwirtschaft und das Teilen von Ressourcen geht. Ziemlich weit hinten im Text, fast hätte man es überlesen, wird erwähnt, dass INLAND im Naturhistorischen Museum im Ottoneum unter anderem einen Film von Hito Steyerl zeigt - klassisches Understatement, das perfekt ins Konzept der documenta fifteen passt, in dem das Ego eine Nebenrolle spielt und das Kollektiv alles ist.

Naturgemäß raunte man sich an den ersten Besichtigungstagen, an denen jeder und jede damit beschäftigt war, sich Orientierung zu verschaffen, vor allem diesen Namen zu: Hito Steyerl. Die deutsche Filmemacherin ist seit Jahren ein Star der Kunstszene - und ihr Werk, eine Filminstallation mit dem Titel „Animal Spirits“ ist so abgedreht, faszinierend und überfordernd, dass man völlig beseelt hinaus geht - auch wenn man den ganzen Quatsch (der natürlich viel mehr ist als bloß Quatsch) nicht so richtig verstanden hat.

Zentrum des Films ist ein Schäfer, der gegen virtuelle Wölfe und „Disney-Ökolog*innen“ kämpfen muss. Es geht um Gladiatorenkämpfe, um ein Casting für eine schräge Realityshow, um eine Kryptowährung, bei der es sich um einen intelligenten Blockchainkäse mit Laktopower handelt, um eine Erfindung, die Geruch in menschliche Sprache übersetzt und so die Kommunikation mit Tieren ermöglicht. All dies ist eingebettet in eine simulierte Höhle mit „KI-animierten paläolithischen Höhlenmalereien“.

So absurd das alles klingt, es gibt in diesem Film offenbar diverse Bezüge zur Realität. So wurde in der Gegend wohl tatsächlich eine Realityshow produziert. Der Begriff „Animal Spirit“ wiederum geht auf den britischen Ökonomen John Maynard Keynes zurück, der damit 1936 den Einfluss menschlicher Emotionen wie Furcht und Gier auf die Märkte bezeichnete, da sie eine Sphäre der Irrationalität erzeugten.

Auch die Währung Cheesecoin gebe es, sie sei, so liest man in einem Steyerl-Text an der Wand, allerdings keine Kryptowährung, sondern zirkuliere „von Mund zu Mund, wie ein Kuss“. Eigentlich hätte man in diesem Moment schon genug zum Nachdenken für den Tag, aber die Documenta ist bekanntermaßen eine Mammutveranstaltung und diesmal besonders herausfordernd. Kollektive aus allen möglichen Ländern präsentieren hier etwas, was sich in vielen Fällen nicht einmal als Werk im engeren Sinne definieren lässt, wobei die Übergänge fließend sind - so wie die Übergänge zwischen zeitgenössischer bildender Kunst, Wissenschaften, gesellschaftlichem Engagement, angewandter Praxis seit langem fließend sind. Genau das wird auf dieser Documenta noch einmal ausgiebig zelebriert und erweitert.

Zum Beispiel mit Paketen voller Elektronikschrott, Plastikabfällen, Altkleidern, die The Nest Collective in den Auepark gestellt hat (siehe auch FR vom 4. Juni). Die Gruppe aus Kenia hat aus den Blöcken eine Art Pavillon gebaut, in dem unter dem Titel „Return to Sender“ ein Aufklärungsfilm läuft, der davon handelt, wie unsere Kleiderspenden die Textilindustrie in Ostafrika zerstört haben und den Menschen dort ihre Würde rauben.

Fast völlig substanzlos (im eigentlichen Sinn des Wortes) sind dagegen die Plakate, die Black Quantum Futurism, ein Kollektiv aus Philadelphia, in eine Unterführung gehängt hat. und die dazu auffordern, über den eigenen Begriff von Zeit nachzudenken. Sofort ploppt alles Mögliche im Gehirn auf. Man weiß ja insgeheim, dass unser westlicher Begriff von Zeit nicht optimal und schon gar nicht alternativlos ist. Allerdings ist Zeit kein ganz unwesentlicher Faktor auf dieser Documenta, wo man sich - und das hat Tradition - ja nicht nur im Zentrum, sondern auch in die Peripherie bewegen muss, was natürlich seinen ganz eigenen Reiz hat.

Neu hinzugekommen ist diesmal der Stadtteil Bettenhausen, ein Industrieviertel im Osten Kassels, wo in einem Lager- und Produktionshaus des Bahnherstellers Hübner auch Werke der Kuratorengruppe Ruangrupa zu sehen sind. Eine Serie von Videos, die Sebastián Diaz Morales gedreht hat, zeigt Menschen beim Dösen - ein wesentliches Instrument zur Förderung der Kreativität, wie man bei Ruangrupa lernt.

Ein weiterer Film mit dem Titel „Smashing Monuments“ zeigt Ruangrupa-Mitglied Mirwan Andan, wie er das Selamat Datang Monument, eines der Wahrzeichen in Jakarta, zum Dialog auffordert. Thema: der Umzug der indonesischen Hauptstadt in die Peripherie. Tatsächlich drückt das Gewicht der Hochhäuser und Wolkenkratzer Jakartas auf die ehemalige Sumpflandschaft, die bevor sie im Meer versinkt, von einem Ort zum anderen bewegt werden soll, und zwar 2 000 Kilometer entfernt ins Dschungelgebiet. Geplant ist das in 15 bis zwanzig Jahren - eine unvorstellbare Aktion.

Über fremde Orte und Kontinente hat man auch auf vergangenen Documentas allerhand erfahren, diesmal ist es allerdings noch viel mehr, und man kann die geballte Informationsflut nur Stück für Stück aufnehmen. Oder man greift einzelne Aspekte heraus. Zum Beispiel die Geschichte, die Safdar Ahmed in seiner Filminstallation „Border Farce“ im Stadtmuseum Kassel über ein australisches Gefängnis erzählt, beziehungsweise erzählen lässt, von dem kurdisch-iranischen Heavy Metal Musiker Kazem Kazemi. Kazemi war sechs Jahre lang als Flüchtling in Australiens Offshore-Gefängnis auf Manus Island (Papua-Neuguinea) inhaftiert, bevor er aus medizinischen Gründen nach Australien evakuiert wurde, wo er heute als Staatenloser lebt. Der Titel spielt auf die 2015 gegründete Abteilung „Border Force“ an, die laut Infotext, „die Hypermilitarisierung von Australiens Grenz-, Zoll- und Einwanderungssystem darstellt“. Kazemi erzählt davon, wie die Wachposten Druck auf die Flüchtlinge ausübten, wie er Menschen aufgrund von Misshandlungen sterben sah, selbst physische und mentale Probleme bekam. Viele seiner Mitinsassen hätten versucht sich umzubringen, erzählt der Gitarrist, der seinen ganzen seelischen Schmerz in die Musik legt.

Am selben Ort demonstriert uns das Indigene queere Künstler:innenkollektiv FAFSWAG aus dem neuseeländischen Aotearoa, wie queere Schwarze Körper durch die Kunst des Voguing gefeiert werden. Im Wesentlichen beschäftige man sich mit der„fortwährenden Negierung geschlechtsdiverser Menschen und ihrer Identitäten in den zeitgenössischen pazifischen Kulturen“, erklärt das Documenta-Handbuch. Dem Kollektiv gehe es um „kulturelle Wiederherstellung“, also die Wiederentdeckung von Traditionen, die durch die Kolonisierung und Moderne unterdrückt wurden.

Im Hessischen Landesmuseum erfährt man etwas über die Geschichte Armeniens. Für ihren melancholischen Film „Asît“ reiste Pinar Ögrenci nach Müküs, die Heimatstadt ihres Vaters, an der Grenze der Türkei zum Iran, in der Armenisch, Kurdisch, Farsi und Arabisch nebeneinander existierten - bis 1915. Damals wurden 1,5 Millionen Armenierinnen und Armenier deportiert, getötet oder aus Anatolien vertrieben. Es ist demnach ein tieftrauriger Film, der von dem erzählt, was mal war, von dem, was stattdessen heute ist.

Und natürlich erfährt man auf dieser Documenta auch Fakten, die man bereits geahnt, gewusst hat. Dinge, die schmerzen und nicht vergangen sind. The Black Archives, ein Kollektiv aus Amsterdam, zeigt im Fridericianum einen Teil seines Archivs zum Schwarzen Befreiungskampf, das im Ganzen aus mehr als 10 000 Büchern, Dokumenten und Fotos besteht - darunter Schriften von Schwarzen Intellektuellen wie Anton de Kom, einem surinamischen Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besetzung der Niederlande während des Zweiten Weltkriegs, .aber auch Infobroschüren („Was tun bei rassistischen Polizeikontrollen?“), Dokumente über Blackfacing und zahlreiche Artefakte wie den „Sarotti-Mohr“ aus Porzellan.

Als man wenige Meter vom Fridericianum an einem Softeis-Stand tatsächlich auf einen „Eismohr“ stößt, ist man eine ganze Weile lang ziemlich erschrocken.

documenta fiften, Kassel: bis 25. September. documenta-15.de

Black Quantum Futurism haben die Unterführung plakatiert. Foto: Sandra Danicke
Black Quantum Futurism haben die Unterführung plakatiert. Foto: Sandra Danicke © Sandra Danicke
INLAND und Hito Steyerl mit einer Installation im Ottoneum. Foto: Sandra Danicke
INLAND und Hito Steyerl mit einer Installation im Ottoneum. Foto: Sandra Danicke © Sandra Danicke
FAWSWAG, Moe Laga, „Neon Bootleg - Neon Bootleg“, 2017. Foto: Sandra Danicke
FAWSWAG, Moe Laga, „Neon Bootleg - Neon Bootleg“, 2017. Foto: Sandra Danicke © Sandra Danicke

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