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„Die Aufforderung, relevant zu sein, empfinde ich als verwirrend“

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Von: Katja Thorwarth

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Jos Diegel.
Jos Diegel. © Barbara Walzer

Mirek Macke, Leiter des Kunstverein Montez, ließ im Dezember Künstler:innen an einer Wand in seiner Ausstellungshalle interdisziplinär künstlerisch experimentieren. Was sagt diese Kollektivkunst unter Corona-Bedingungen über die Künstler:in aus? Und was hat das mit Systemrelevanz zu tun? Die FR hat sich mit dem Offenbacher Künstler Jos Diegel unterhalten. 

Herr Diegel, Sie waren Teil der Kunstaktion im Montez. Ist das Kunst in Zeiten von Corona?

Es handelt sich um eine zeitgenössische Kunstaktion. Ich gehe davon aus, dass das Projekt mit dem Abnehmen des Bildes von der Wand nicht beendet ist. Sicher ging es darum, den Fokus von der Pandemie wegzuführen und sich und die eigene künstlerische Arbeit nicht ständig mit der Pandemie zu identifizieren. In Kunsträumen wie dem Kunstverein Lola Montez geht es allerdings immer darum, neue und andere Perspektiven zu entwickeln. In diesem Fall war es eben ein organisatorisch und konzeptionell an die Umstände angepasstes Kunstprojekt.

Was ist das besondere an der Aktion?

Über 40 Künstler:innen konnten mit einer zunächst weißen Wand anstellen was sie wollten; vom 1. bis 31. Dezember lief das Projekt. Es ist ein gemeinsames, vom Direktor des Kunstvereins orchestriertes, malerisches und performatives Experiment. Da Blockbuster-Ausstellungen mit großem Publikum momentan nicht machbar sind, sollte diese Aktion großen Kulturinstitutionen und Museen als Beispiel dienen, regionale Künstler:innen zu zeigen. So könnte ihr Auftrag, Kultur und Kunst zu vermitteln, gerade in Corona-Zeiten weitergeführt werden.

Sie haben das Signet „ne créé jamais“ auf der Wand hinterlassen. Was hat es damit auf sich?

Die Forderung „ne créez jamais“ ist eine Abwandlung des ikonischen Graffitis „Ne Travaillez Jamais“ („arbeitet niemals“) der französischen Bewegung der Situationisten in Paris. Die schlagkräftige Phrase erinnert daran, sich nicht den Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft zu unterwerfen und fremdbestimmt zu arbeiten. Dahinter steckt der Wunsch nach einer Gesellschaft, in der wir, in welchem Tätigkeitsverhältnis auch immer, selbstbestimmt und wertgeschätzt werden.

Inwiefern bezieht sich das auf ihre Arbeit?

„ne créez jamais“ („kreiert niemals“) ist ein durchaus widersprüchlicher Rat an mich selbst und verweist auf den Akt, fremdbestimmt zu kreieren bzw. fremdbestimmt kreativ zu sein. Der Ratschlag stellt sich dem Imperativ der Kreativgesellschaft entgegen und konterkariert die Forderung „sei kreativ, alternativ und unbestechlich individuell und frei!“, die in der derzeitigen Situation der Pandemie in ein unerwartetes Spannungsgefüge gerät.

Was hat Fremdbestimmung beziehungsweise der Zwang zur Kreativität mit der Pandemie zu tun? 

Zur Person

Jos Diegel, 1982 in Offenbach geboren, arbeitet als freischaffender Künstler mit den Disziplinen Video und Film, Malerei, Performance, Theater und Wrestling. Seine Projekte wurden international gezeigt. Diegel unterrichtet Erwachsene, Kinder und Jugendliche an Kunsthochschulen, Sommerakademien, Kunstvereinen, Museen sowie in Jugendstätten, Kindergärten und Schulen und ist aktiv in Kunst- und Film- Initiativen.

Im Kunstverein Familie Montez in Frankfurt hat dessen Leiter Mirek Macke im Dezember Künstlerinnen und Künstlern Gelegenheit gegeben, an einer Wand in der Ausstellungshalle interdisziplinär zu experimentieren. Fotos und Videos unter kvfm.de

In Pandemie-Zeiten wollen viele Freie Kulturschaffende systemrelevant sein, dabei ist Systemrelevanz viel zu stark verbunden mit einer ökonomischen Relevanz. Das liegt wiederum daran, dass man Sofort- und Überbrückungshilfen nur bekommt, wenn man seine ökonomische Relevanz nachweisen kann. Tatsächlich drängt sich mir jedoch der Gedanke auf, dass das Buhlen um diese Auszeichnung die Gefahr der Fremdbestimmung birgt. Selbstverständlich ist es wichtig, dass die Arbeit von Freien Künstler:innen und Kulturinstitutionen erhalten bleibt. Dafür braucht es auch staatliche Hilfen. Gleichzeitig sehe ich einen Widerspruch, wenn sich freie, und unter Umständen systemkritische Kunst und Kultur als systemrelevant etikettiert. Denn eigentlich fallen alle freien Tätigkeiten, die unabhängig und nicht der ökonomischen Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zuzuschreiben sind, aus dem Raster heraus.

Was ist Ihre Forderung?

Die staatlichen Hilfen für Kultur brauchen andere Bemessungsgrundlagen. Die Hilfen müssen so gestaltet werden, das niemand und keine Kulturinstitution, in welcher Größenordnung auch immer, zu Grunde geht. Kulturschaffende kommen ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nach und müssen dafür entschädigt werden.

Wie können diese aussehen?

Während der ersten Corona-Welle wurden nachgewiesene Fixkosten erstattet ohne Berücksichtigung von Lebenshaltungskosten und Ausfallhonoraren. Davon kann kaum ein:e freie:r Kunstschaffende:r überleben. Später wurde versucht, Förderungen mehr auf die Kunst zuzuschneiden – jetzt sind viele staatlichen Hilfsprogramme sowie spezielle Corona-Stipendien für Kunst- und Kulturschaffende in der zweiten Welle an Qualitätskriterien oder Hürden gebunden. Es verstärkt sich das bereits bekannte, wetteifernde Buhlen um Aufmerksamkeit, Stipendien und Kunstpreise, bei dem viele Freie Künstler:innen leer ausgehen. Bei vermeintlichen Qualitätskriterien zählt letztlich doch die eigene Vernetzung und Vita mehr als der künstlerische Wert.

Was ist jetzt die Kritik?

Meine Kritik ist, dass sich künstlerische und kreative Arbeit beziehungsweise immaterielle Kulturarbeit grundsätzlich schwer bis gar nicht in ökonomische Kriterien einordnen lassen. Letztlich müssen die Lebenshaltungskosten unbürokratisch gesichert sein, wenn Künstler:innen nicht arbeiten können.

Kann Systemrelevanz im Kontext der gesellschaftlichen Bedeutung nicht auch positiv sein?

Ich dachte immer, das schlimmste, was man sich vornehmen kann, ist es, authentisch zu sein. Jetzt empfinde ich die Aufforderung, relevant zu sein, ähnlich verwirrend. Wenn wir mit der Frage nach unserer Systemrelevanz konfrontiert werden, führt uns eine verkürzte Diskussion über Systemrelevanz auf Basis der Bedingtheiten des kapitalistischen Systems zu unnötigen Spaltungen. Welche Wertschätzung eine Gesellschaft für Kultur hat, auch gerne im Vergleich mit Autos und Flugzeugen und deren Subventionen und Hilfen, ist eine legitime Diskussion, die aber unabhängig von der Pandemie stattfinden müsste.

Was verstehen Sie eigentlich unter Systemrelevanz?

Systemrelevanz scheint darauf ausgerichtet, genauso weiterzumachen wie bisher. Alles soll „normal“ bleiben, um den gesellschaftlichen Status quo zu halten. Allerdings stelle ich mir auch die Frage, ob ich in einem System, das systematisch Ausbeutung, Ausgrenzung, Unterdrückung und Ungleichheit fördert, relevant sein möchte. Es wirkt beinahe zynisch, im Kapitalismus auf die eigene Systemrelevanz zu beharren – als ob sich Pfleger:innen, Erntehelfer:innen, Fleischfabrikarbeiter:innen und andere ihre Arbeit ausgesucht hätten, in der Absicht, „systemrelevant“ zu sein. Der Ruf zurück zur Normalität ist der Ruf nach dem Status quo - und der ist reaktionär.

Stichwort Kollektivität: „Wie sehr wollen wir uns nicht selbst alle auf die Schulter klopfen“, haben Sie in einem Video formuliert. Können Sie das konkretisieren?

Freischaffende Künstler:innen sind zwar prekäre, aber leidenschaftliche Leistungsträger*innen ihrer eigenen Kreativerzeugnisse im Strudel von Aufmerksamkeitsgenerierung und (Selbst-)Ausbeutung. Gerade deshalb müssen wir selbstkritisch sein gegenüber unserer Kunst- und Kulturlandschaft. Die basiert nämlich immer noch auf Konkurrenz und Wettkampf, auch wenn am Ende die mit den besten einflussreicheren Kontakten gekürt werden. Der Druck, sich zu etablieren ist groß. Die derzeitige Situation ist nicht neu, nur verschärft.

Das klingt ziemlich pessimistisch.

Nein, denn wir könnten die Situation nutzen, um uns zu organisieren. Wir könnten als Kollektiv, als Netzwerk daran arbeiten, Förderungen und Stipendien transparenter und differenter zu machen. Auch gibt es viel zu tun im Hinblick auf angemessene Vergütung in der Kultur, Arbeitslosenversicherung, Altersarmut, Kulturarbeit mit Kind usw. 

Die Montez-Aktion war im Hinblick auf das Schaffen ein Kollektivakt, wobei Sie auch Werke übermalt haben. Weshalb das?

Übermalung klingt in diesem Fall provokativer und zerstörerischer als es war. Die Werke anderer Künstler:innen wurden ja nicht ausgelöscht oder durch monochrome Farbschichten radikal annulliert. Ganz im Gegenteil, es ist eine Kommentierung changierend zwischen Hommage und Persiflage der vorgehenden Kunst durch die gestisch-expressive Spur des Pinsels – so als ob man Stellen in einem Text markiert, neu ausrichtet und überschreibt. Die Übermalung einer Bildvorlage könnte eine anarchische Gebärde sein. Aber ganz pragmatisch gesagt: Es war kein Platz mehr auf der riesigen Fläche, bestimmte Stellen zu gestalten, wie es andere vorher getan hatten.

War das geplant?

Es gab keine konzeptionellen Vorgaben oder einen kollektiven Prozess von Absprachen, z.B. gleich groß abgemessene Markierungen, um jedem und jeder eine gleichberechtigte Fläche zu geben. Es hätte auch so laufen können, dass ich als erstes vor einer komplett weißen Wand stehe. Übrigens wurden nach mir monochrome, schwarze Flächen aufgetragen.

Ich zitiere Sie mal: „Gleichberechtigt für alle den Gedanken ausschalten: darf oder darf ich das nicht“ ...

 … soll heißen, dass ich versucht habe, keine Wertungen vorzunehmen, wann ich wie übermale. In den Übermalungen arbeitete ich mit dem Zufälligen und einem kompositorischen Blick auf das Gesamtbild. Für mich war es naheliegend, mit der Malerei Ebenen zu schaffen, Motive und Flächen ineinander zu verweben, fließen zu lassen und nicht nur nebeneinander zu arbeiten. Je mehr Bearbeitungsspuren ein Gemälde aufweist, desto dichter und stärker kann es werden. Oft entsteht gerade im Prozess der Übermalung etwas Eigenes und Überraschendes.

Es geht also um etwas Verbindendes. Aber wer entscheidet, was verbindet?

Das entscheide selbstverständlich nicht ich, ich kann mich aber zur Herstellung einer Verbindung innerhalb meines Beitrags bemühen. Außerdem ging es auch um eine Performance. Während ich auf ein gemeinsames, finales Werk hingearbeitet habe, habe ich mich als Teil eines performativen Prozess gesehen, in dem jeder seinen Slot bekommt. Nochmal, ich wollte nie eine Künstler:in persönlich angreifen oder ein Werk zerstören. Treten wir doch mal zurück und betrachten das Gesamtbild. Das Projekt ist ein Gemeinschaftsprojekt, ohne das es gemeinschaftlich konzeptioniert und vorbereitet worden wäre. Am meisten verbindet uns nun einmal die Situation, in der wir uns befinden und zu der wir uns verhalten sollen. Daraus resultieren verschiedene Meinungen und das macht eine Gemeinschaft aus.

Interview: Katja Thorwarth

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