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„Das Relief von Rodin bis Picasso“ im Städel Museum Frankfurt: Ausbruch aus der zweiten Dimension

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Von: Lisa Berins

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Ein Highlights der Ausstellung: Paul Gauguins „Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses)“ von 1890. 
 Lindenholz, bemalt, mit Spuren von dunklem Farbstift
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Ein Highlight der Ausstellung im Städel: Paul Gauguins „Seid geheimnisvoll (Soyez mystérieuses)“ von 1890. Lindenholz, bemalt, mit Spuren von dunklem Farbstift. © bpk/RMN – Grand Palais, Paris/Tony Querrec

Das Städel Museum rückt das Relief in den Blick. Es ist eine nicht zu unterschätzende Kunstform.

Ständig läuft man dran vorbei, ohne es wirklich wahrzunehmen. Es ist an Gebäuden, in Museen, sogar in der eigenen Wohnung. Jetzt hat das Städel Museum ihm eine Ausstellung gewidmet: dem Relief. Seinen Spielarten, seinem Können, seinem Potenzial. „Herausragend! Das Relief von Rodin bis Picasso“ ist explizit keine Geschichte einer Kunstform; vielmehr ist es eine Beweisführung in 13 Kapiteln. Es wird belegt, dass das Relief mehr ist als eine Zwischen- oder Verlegenheitslösung. Es ist ein künstlerisches Ausdrucksmittel an sich, mit eigenen Qualitäten, dem man einen aufmerksamen Blick schenken sollte.

Reliefs gibt es wahrscheinlich schon seit Anbeginn der Welt, und es gibt sie überall. Wo der Mensch ist, trägt er auf Flächen auf oder kratzt hinein – eine neue Ebene entsteht. Er verziert Architektur mit Reliefs, er tapeziert sie zu Hause an die Wand (die Raufasertapete ist tatsächlich Thema in der Ausstellung). Einen genauen Blick hat das dreiköpfige Kuratorenteam auf eine besonders spannende Zeit geworfen: auf den Zeitraum von 1800 bis in die 1960er Jahre - da spielte das Relief eine besondere Rolle für die bildende Kunst. Als Erweiterung der Leinwand, als Gattungsprenger zwischen Malerei und Skulptur, im Wettstreit um die bessere Darstellbarkeit der Wirklichkeit, und als künstlerisches Experimentierfeld: Was hat das Relief, was Malerei und Skulptur nicht haben? „Es vereint das Beste aus beidem“, sagt Kuratorin Eva Mongi-Vollmer.

Das Relief fängt in der Fläche an und bricht sie auf, und damit bricht es auf in die dritte Dimension. Technisch gesehen ist es zumindest teilweise eine Plastik, die dennoch mit einer Fläche verbunden ist; die in den Raum greift und die Fläche damit plastisch erweitert. Durch das Zusammenspiel von Fläche und Plastik ergeben sich neue Perspektiven, neue Möglichkeiten der Erzählung.

Ende des 19. Jahrhunderts haben Künstler (und vermutlich auch Künstlerinnen, in der Ausstellung sind von 93 Werken allerdings nur neun von Frauen, und diese neun entstanden im 20. Jahrhundert) diese Möglichkeiten für ihre Arbeit entdeckt und sie bewusst eingesetzt: Der italienische Bildhauer Medardo Rosso ließ in seinen Bronzen den Umraum stehen. Dieser Raum ist eine Art „Extended Version“ der Skulptur; durch sie wird die Figur in eine Erzählung eingebettet, in eine Landschaft oder andere zeitliche Ebenen – es wird die Vielfalt genutzt, die eigentlich nur die Malerei besitzt.

Lee Bontecou, Ohne Titel, 1962. Foto: Kunstmuseum Basel, M. P. Bühler, Lee Bontecou
Lee Bontecou, Ohne Titel, 1962. © Foto: Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler

Das besondere Interesse im späten 19. Jahrhundert am Relief illustriert das Werk „Seid geheimnisvoll“ (1890, aus dem Musée d’Orsay) von Paul Gauguin, der die Farbigkeit in das Relief einführte. Damals beschäftigte man sich in Künstlerkreisen nicht nur mit neuen Techniken des klassischen Holzschnitts, sondern interessierte sich auch verstärkt für die Kunst der Antike - und ihre Polychromie. Arnold Böcklin, Maurice Denis, Ernst Ludwig Kirchner – auch sie gestalteten ihre Reliefs farbig. Der Parthenonfries der Athener Akropolis rückte außerdem in den Fokus künstlerischer Arbeit. Abgüsse und Fotografien der im Flachrelief gearbeiteten Reiter kursierten in Akademien und Ateliers.

Schon in dieser Zeit gab es Vorboten für das, was das Relief im Verlaufe der Geschichte für die Kunst leisten würde: Zum einen brachte es, wie erwähnt, die dritte Dimension in die Malerei, zu sehen exemplarisch an dem Bild „Ein Anstreicher an einer Hauswand“ (1875, aus der eigenen Sammlung) des selbst ernannten „Krustenmalers“ Adolphe Monticelli. Sein dicker Farbauftrag machte aus der Leinwand eine haptische – krustige – Oberfläche. Und zum anderen brachte es den Einzug der Fläche in die Skulptur, als eine Art „Rückkopplung“. Beispielhaft ist das an Edgar Degas’ „Trabendes Pferd“ von 1870-88 zu sehen: Diese Plastik, die nach einer Studie des Parthenonfrieses entstanden ist, ist so angelegt, dass sie nur von einem Standpunkt aus silhouettenhaft „funktioniert“.

Die Erweiterung des Bildes in den Raum nach Art des „Krustenmalers“ haben später andere fortgeführt, in der Ausstellung sind dazu Gemälde von Jean Dubuffet und Eugène Leroy zu sehen. Eine andere Variante derselben Grundidee: Neues in das Bild integrieren und seine Oberfläche damit zur Teilplastik werden zu lassen. Meisterhaft hat das Yves Klein umgesetzt; durch Schwämme, die er in „Relief éponge bleu“ (1960) auf der Leinwand anbrachte - und den Einsatz seines berühmten Blaus, dessen Tiefe und Strahlkraft den Raum in die Unendlichkeit führen. Ein besonderes Beispiel für ein Relief liefert auch William Turnbull. Die Werke des britischen Künstlers sind eher selten in Museumsausstellungen zu sehen und ungewöhnlich: Sie sind als liegende Reliefs gedacht, die zwar eine Grundfläche, aber ähnlich wie eine klassische Skulptur keinen fixen Betrachtungspunkt haben. Man kann um sie herumgehen und sie von allen Seiten anschauen.

Die Frage, warum Künstlerinnen und Künstler das Relief für eine Arbeit wählen, stellt sich bei einem Werk der Ausstellung ganz besonders: Käthe Kollwitz’ „Die Klage“ (1938-41) zeigt ein Gesicht, das in Schmerz und Trauer halb hinter zwei großen Händen verborgen ist. Reliefs sind ungewöhnlich für Kollwitz’ Œuvre, warum wählte sie gerade zum Tod ihres Künstlerfreundes Ernst Barlach diese Form? Möglich, dass sie sich an der Grabplastik orientierte. „Die Klage“ hat etwas Standhaftes, Monumenthaftes und Ergreifendes, sie erscheint durch die Form - das Relief - als ein Aufruf zum Erinnern. In der Schau findet das Werk seinen Platz neben Relief-Porträts, die auf Medaillen und Münzen als „Kleindenkmale“ für die Tasche galten - so zitiert Eva Mongi-Vollmer den Kunsthistoriker Alfred Lichtwark. Bei Alberto Giacometti ist das Relief eine Spielart des großen Experimentierens mit den Dimensionen: Den „Kopf einer Frau“ (um 1927) gestaltete er als Plastik mit flachem Gesicht, in das die Züge reliefartig eingeritzt sind.

Pablo Picasso: „Violine (Violon)“, 1915.
Pablo Picasso: „Violine (Violon)“, 1915. © bpk | RMN - Grand Palais | Béat

Das Relief war für viele ein Experiment, vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Es bot den Raum, um die Umbrüche und die Zersprengtheit der Welt zu spiegeln. Da war das Bedürfnis, aus den Konventionen auszusteigen; und aus dem Bild, aus der Zweidimensionalität auszubrechen. Künstlerinnen und Künstler des Dadaismus, darunter Kurt Schwitters, verarbeiteten Alltagsgegenstände zu Assemblagen. Radikal wurden die formalen Anforderungen an ein Bild dekonstruiert: Oskar Schlemmer sprengte mit dem Relief gar die Leinwand: „Ornamentale Plastik auf geteiltem Rahmen“ (1919/1923) nannte er das. Eine der Sensationen der Ausstellung ist die als Schlusspunkt gesetzte „Violine“ von Pablo Picasso. Es ist eine Arbeit aus bemaltem Metallblech und Eisendraht, die aus dem Musée Picasso-Paris geliehen wurde. „Das Werk war ein Quantensprung“, sagt Kuratorin Eva Mongi-Vollmer; „es war die Befreiung des Reliefs aus der gebundenen Fläche.“ Und das im Jahr 1915.

Das Relief war also nicht nur ein Experiment, es war auch Rebellion und Ausbruch. Aber es war noch mehr: Es wurde zum künstlerischen Mittel einer Reflexion darüber, was Kunst kann. Lucio Fontana zum Beispiel zerschnitt seit den 1940er Jahren Bilder, öffnete dadurch den dahinterliegenden Raum. Ebenen wurden nicht nur durch das Auftragen von mehr und mehr Material geschaffen - eindrückliches Beispiel dafür ist die monumentale Wandplastik von Lee Bontecou in der oberen Etage -, sondern auch durch das Ausschneiden und Freilegen des „Dahinter“. Die Wand wurde dadurch auch selbst zum Player. Beim „All-over“ - das sind Werke mit einer flächendeckenden Struktur ohne Hauptmotiv - war die Wand eine imaginierte Leinwand, auf der sich spekulativ - raufasertapetenartig - ein Muster in die Unendlichkeit fortsetzen könnte.

Eine zentrale Position nimmt das Relief im immerwährenden „Paragone“ ein, im Wettstreit der Künste. Malerei oder Skulptur - welche Gattung kann die Wirklichkeit besser abbilden? Die Malerei argumentiert mit dem Trompe l’œil; mit täuschend echt gestalteten Stillleben etwa, die eine räumliche Tiefe und Plastizität der Objekte vortäuschen. Gerhard Richter stellt die Betrachterinnen und Betrachter mit seinem „Großen Vorhang“ (1967) auf die Probe: Eine optische Täuschung erschafft die Vorstellung einer neuen Dimension. Aber was ist mit der „echten“ dritten Dimension? Die gibt es in der Malerei nicht. Und die Skulptur - die schafft den Kontext nicht. Für den Gewinner des Wettstreits gibt es einen neuen Top-Favoriten – Sie wissen schon. Geheim oder unauffällig ist er nun nicht mehr.

Städel Museum, Frankfurt: bis 17. September. www.staedelmuseum.de

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