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Bilder, kälter als ein Berliner Winter

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Von: Sebastian Borger

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Weimar an der Themse: Die Londoner Tate Modern feiert den „Magischen Realismus“ der zwanziger Jahre in Deutschland.

Mögen andere Sehenswürdigkeiten saftige Eintrittspreise verlangen, mögen die eigenen Spezialausstellungen gelegentlich nicht ganz billig sein – die Sammlungen der staatlichen Museen Londons bleiben auch in Zeiten von Sparprogrammen und Brexit-Unsicherheit kostenlos zugänglich. Millionen einheimischer und ausländischer Besucher machen jährlich davon Gebrauch, auch in diesen Sommerwochen wimmeln National Gallery, British Museum und die beiden Tate-Häuser von bunten Touristen aus allen Kontinenten.

Im Schatten einer vielgerühmten, noch bis Anfang September geöffneten Picasso-Ausstellung hat Tate Modern jetzt ohne großes Aufsehen eine kostenlose Schau eröffnet, die es in sich hat: In fünf Räumen versammelt „Magischer Realismus – Kunst der Weimarer Republik“ rund 70 Gemälde und Zeichnungen von 31 Künstlern und drei Künstlerinnen, darunter George Grosz, Rudolf Schlichter, Jeanne Mammen und Conrad Felixmüller. Die Werke stammen überwiegend aus der Sammlung des griechischen Reederei-Milliardärs George Economou, einem Mitglied im Aufsichtsrat der Tate-Stiftung.

Magischer Realismus – das dürfte bei vielen zunächst Assoziationen zu Gabriel García Márquez, Isabel Allende und der lateinamerikanischen Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts wecken. Der Kunsthistoriker Franz Roh aber prägte den Begriff schon in den frühen 1920er Jahren als Beschreibung eines neuen Trends: weg vom Idealismus der Vorkriegszeit, hin einerseits zu einer sehr präzisen Beobachtung des Alltags („Neue Sachlichkeit“) oder seiner satirischen Verzerrung, inklusive grotesker und unheimlicher Anblicke. Dabei ging es nicht zuletzt um die Verarbeitung der Fronterlebnisse bei all jenen wie Carl Grossberg, Max Beckmann und Albert Birkle, die den Krieg am eigenen Leibe erfahren hatten.

Den ersten Saal dominiert denn auch – wie könnte es anders sein – eine Vitrine mit Zeichnungen von Otto Dix. Zu sehen sind diesmal aber nicht, wie vor Jahresfrist in der Tate Liverpool, seine schrecklichen Erlebnisse im Schützengraben, sondern Szenen aus dem Zirkus. Dessen Welt aus Phantasie, Nervenkitzel und Glamour identifizieren die Ausstellungsmacher ebenso als wichtigen Topos wie das Kabarett, dessen schrille, gewagte Sozialkritik die Zeit widerspiegelte.

Albert Birkles Jugendwerk „Der Akrobat Schulz V“ (1921) beispielsweise zeigt einen grimassierenden Mann mit tiefen Gesichtsfurchen und fliegendem Haar. Steht er kurz vor einem Sturz? Symbolisiert er die zerschlagene, wankende Nation? Ausführlich gehen die Erläuterungen der Ausstellung auf wichtige Ereignisse jener 14 Jahre der Weimarer Republik ein. Ein wenig Nachhilfe kann natürlich nie schaden angesichts der ausgeprägten Geschichtslücken, mit denen die staatlichen Schulen auf der Insel junge Leute ins Leben entlassen. Allerdings gehört ausgerechnet Weimar und vor allem die darauffolgende Nazi-Barbarei noch am ehesten zu den wenigen Schwerpunkten, die den Schülern ein ums andere Mal vermittelt werden.

Anders als noch vor Jahresfrist, als die Tate Liverpool „Eine Nation porträtieren – Deutschland 1919-1933“ präsentierte, benannten die englischen Kritiker diesmal keine Parallelen zwischen dem zerrissenen Brexit-Land und der Weimarer Republik. Hervorgehoben wird vielmehr, etwa im „Guardian“, die „noch immer schockierende“ Zurschaustellung von Lasterhaftigkeit und Verkommenheit, beispielsweise in Otto Dix’ „Lustmord“ (1922) oder Rudolf Schlichters „Der Künstler mit zwei erhängten Frauen“ (1924); vor diesen beiden Kunstwerken warnen die Ausstellungsmacher die sensiblen Betrachter des 21. Jahrhunderts sogar ausdrücklich: „Manche Besucher könnten sie erschütternd finden“, heißt es in typisch englischem Understatement, was den „Telegraph“ zu dem beißenden Kommentar verleitete: „Manche Besucher? Wer davon nicht erschüttert ist, gehört eingesperrt.“ Von „Bildern, die kälter sind als ein Berliner Winter“, schreibt das Stadtmagazin „TimeOut“.

Tatsächlich taugt „Magischer Realismus“ nicht für jene, die von Kunst hübsche Ästhetik erwarten. Zu besichtigen ist vielmehr die Zerrissenheit jener aufregenden, chaotischen Jahre, widergespiegelt in den Werken mancher Wieder- und Neuentdeckungen neben großen Namen wie Dix, Grosz und Beckmann.

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