„Aftermathematics“ von Shannon Finley: Farbenrausch mit Knospenknall

Shannon Finleys „Aftermathematics“: Im Mies-van-der-Rohe-Haus reibt der Kanadier sich in strahlenden Geometrien und kristallinen Formen an der Bauhausästhetik
Es ist, als sei ein Farbfeuerwerk hineingefahren ins bisherige meist nasse Frühjahrsgrau, nach draußen, ins Ergrünen des Gartens am Obersee, und nach drinnen, in die einstigen Wohnräume des Hauses Lemke. Seit 1990 ist der Bauhausbungalow kommunales Museum.
Der Maler Shannon Finley, der seit 2014 in Berlin, im nahegelegenen Weißensee, arbeitet, kommt aus Ontario. Fast verlegen lächelnd steht er vor seinen farbstrahlenden Leinwänden. Er spürt die Begeisterung, die gute Laune, die seine Malerei bewirkt bei den Leuten, die weit an den nordöstlichen Stadtrand, ins Mies-van-der-Rohe-Haus nach Hohenschönhausen, gefahren sind, um die Bilder zu sehen und durch den Landschaftsgarten zu gehen, wo die Knospen knallen.
Finley nannte seine Bildfolge an den Wänden des hellen Klinkerbaus von 1933, dem letzten Privatwohnhaus, das der Bauhausmeister Ludwig Mies van der Rohe vor der Emigration aus Nazideutschland in die USA noch für das Verlegerpaar Lemke geschaffen hatte, „Aftermathematics“. Und tatsächlich: Angesichts derart sinnenberauschender Additionen und Subtraktionen könnte wohl so mancher Mathemuffel bekehrt werden.
Eine sinnliche Farbenergie
Man möchte diese sinnliche Farbenergie mal geometrisch abstrakt nennen, wie bei Malewitsch oder Mondrian, mal prismatisch wie bei Feininger, kristallin wie in der Bildwelt des Anthroposophen Rudolf Steiner. Und bisweilen ist es auch Orphismus, wie in den Gemälden von Robert und Sonia Delaunay. Die konstruktivistische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts kommt einem in den Sinn, auch die spätere Op-Art von Imi Knoebel oder Peter Halley. Und gleich darauf glaubt man, die Pixel älterer Computerspiele zu sehen.
Doch ist dies alles weder ein „Ismus“-Mix mit System noch eine formale Bezugnahme auf die geometrische, minimalistische Bauhausarchitektur. Finleys Malerei passt in keine Stil-Schublade. In diesen Bildern ist die energetische Spannung so technoid wie emotional. Wir schauen minutenlang auf diese Tafeln – auf die intensiven Formen, die fast metallisch wirkenden Acrylfarbenflächen – und begreifen, dass es Finley nicht um Hommagen an große Vorbilder geht. Es ist vielmehr sein ganz eigener Kosmos des Sehens und Empfindens, der Reflexion, des am Ende handgemachten Ausdrucks. Dafür, sagt er, brauche er keine KI.
Als der 1974 in einer Kleinstadt in der kanadischen Provinz Ontario geborene Schuljunge zu malen begann, wusste er, das erzählt er freimütig, noch so gar nichts von all den eben genannten Avantgardisten. Das kam erst viel später, beim Studium an der Cooper Union in New York und am Nova Scotia College of Art and Design in Halifax. Über Jahre befasste er sich mit Fantasy-Malerei und mit Web-Kunst. Und dann waren es die Grundelemente der Geometrie, die schon all die Größen der Moderne fasziniert und zum Experimentieren inspiriert hatten, die auch ihn interessierten.
Die Räume des schlichten Mies-Bungalows mit ihren Fensterfronten zum Garten hinscheinen wie geschaffen für Finleys Bilder. Wie den Bauhaus-Stilistikern liegt auch ihm nichts an exaltierten Gesten oder überwältigender Bildwucht. Eher am Einfachen, das so schwer zu machen ist. Ihm ist das unter Architekturhistorikern gerühmte Ausstellungshaus auch kein Bauhaus-Fetisch. Vielmehr können hier seine farbigen Kreise, Halbkreise, Kegel, Vierecke, Dreiecke, Rhomben, Rauten, Spiralen, splittrigen Spitzen und reliefartigen Linien frei miteinander kommunizieren, tanzen, strahlen, sich verschränken.
Finley sucht nicht nach einem Maler-Kommentar zur „reinen Lehre“. Er verbindet seine verinnerlichten digitalen Seherlebnisse kühn mit analogen Formen. So, als ob Informationen sich überlagerten, ausgelöschte sofort durch neue übersetzt würden, aber tief darunter, auf der Festplatte, für immer gespeichert wären. Es sind Bildwerke, für die er nicht selten Monate braucht. Sie entstehen in vielen Schichten, sodass die Transparenz – das Dazwischen – bei jedem Bild sozusagen ein Subthema ist. Er lässt das Inhaltliche seiner Arbeiten offen, um sie den Gedanken und Gefühlen der Betrachter zu überlassen.
Ideal passen seine Bilder in die diesjährige Ausstellungsreihe des Mies-van-der-Rohe-Hauses „Zwischen Gebrauch und Kontemplation“. Finleys Werke sind Bildereignisse, weil sie die ganze Klaviatur an Fantasie, Gedanken, Emotionen der sie Betrachtenden in Bewegung, ja, zum Klingen bringen. Sie tun das aufwühlend oder, wenn die Farben eher gebrochen sind, meditativ. Sie brauchen keine Pinsel. Das verrät dem staunenden Publikum zur Vernissage der Berliner Kunsthistoriker Sebastian Preuss. Er hat sich intensiv mit Finleys Werk befasst, beobachtete, wie der Maler diese metallisch schimmernden Formen entstehen lässt.
Alles scheint zu atmen
Der Kanadier hat für sich eine raffinierte Abklebe-Technik entwickelt. Er zieht über die so entstehenden geometrischen Areale in der Leinwand die Acrylfarbe mit dem Spachtel. Wieder und wieder. In den Formen entdeckt man Luftbläschen, feinste Haarrisse, krümelige, grieselige Strukturen, als sei es nicht ganz perfekte Haut. Alles scheint zu leben, zu atmen, sich zu bewegen, ineinander zu verschachteln: Denkprozesse, Gefühlslagen als eine fortwährende Verschränkung und Abstraktion. Nie festgefügt, immer wie fließend. Oder im Schwebezustand
Der lebhafte Finley-Kosmos will keine sich im Ästhetischen, im Ornamentalen erschöpfende Erscheinung sein, sucht nicht den Effekt der visuellen Wirkmacht. Der Maler arbeitet meisterlich mit dem Licht. Egal, ob die Sonne auf die Bilder fällt oder der Himmel grau ist, sich gar gewittrig verdunkelt – die Abstraktionsspiele finden unabhängig davon statt. Ohne Anfang. Ohne Ende. Finleys mathematische Mal-Ästhetik ist die des Ungefähren, Unbestimmten. Wie reizvoll, dass es in der so oft schon totgesagten Königsdisziplin noch solch ungelöste Rätsel gibt.
Mies-van-der-Rohe-Haus , Hohenschönhausen, Berlin: bis 25. Juni. www.miesvanderrohehaus.de