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Krieg 52

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Von: Thomas Stillbauer

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Auch hier in London vor der Russischen Botschaft, setzt die Ukrainische Flagge auf dem Boden ein Zeichen gegen den Krieg.
Auch hier in London vor der Russischen Botschaft, setzt die Ukrainische Flagge auf dem Boden ein Zeichen gegen den Krieg. © Martyn Wheatley/Imago

Wie groß war der Wunsch vor einem Jahr, die Zahl hinter dem Krieg in der Überschrift dieser Kolumne möge nicht weiterwachsen. Es war der Wunsch, der verdammte Krieg möge enden. Was bleibt, ist die Hoffnung darauf. Die Kolumne „Times Mager“.

Wir Journalistinnen und Journalisten schreiben ungern in der Ich-Form. Jedenfalls die meisten von uns. Unsere Texte sollen in der Regel keine persönlichen Befindlichkeiten transportieren, sondern Informationen. Mitunter auch Meinungen, aber selbst dann vermeiden wir das Ich. Es ist auch eine Stilfrage. Es gibt Schreibende, die das anders handhaben, generell oder gelegentlich, und sie haben gute Gründe dafür.

In den mittlerweile 52 Wochen, die diese Kolumne im Feuilleton der Frankfurter Rundschau einmal wöchentlich den Krieg thematisiert, hat sie ihr Wesen verändert und, wenn ich das so offen schreiben darf, auch meines. Wenn ich mir früher einmal in der Woche mein „Times mager“ ausdachte, habe ich an guten Tagen dabei gekichert und fast immer gehofft, die Leserinnen und Leser täten das auch: lachen. Der Wunsch war, mit meinen bescheidenen Beiträgen zu diesem ehrenwerten und traditionsreichen Format, mit diesen fünf, sechs, sieben Absätzen Vergnügen zu bereiten. Das hat vor einem Jahr aufgehört.

Die erste in der Reihe dieser Kriegskolumnen am 28. Februar hieß „Nein“. Es war das berühmte Wolfgang-Borchert-Nein, das bei allem Entsetzen noch die Hoffnung in sich barg, dass wirklich genug Menschen auf russischer Seite Nein sagen würden zu Krieg und sinnloser Zerstörung. Die Hoffnung blieb unerfüllt. Mein zweites „Times mager“ zum Thema, 12. März 2022, hieß „Bücherkrieg“ und spielte zum letzten Mal im Titel auf den Bücherkater an, unerschütterlicher Freigeist, in Bücherstapeln geboren, samtpfotiger Begleiter in trüben und heiteren Zeiten. Seit dem 19. März, „Krieg 3“, tragen meine Kolumnen an dieser Stelle das Unvorstellbare im Kopf und im Bauch. Und eine Zahl.

Wie groß der Wunsch ist, die Zahl hinter dem Krieg möge nicht weiterwachsen, ist seither hoffentlich jede Woche klar geworden. Es ist der Wunsch, das Leiden möge enden, die Diskussion über Waffen möge enden, der Streit über das richtige Maß an Bevormundung einer gequälten Bevölkerung möge enden – der verdammte Krieg möge enden. Und zwar überall.

Wir haben in diesen 52 Wochen gelernt, dass die acht Jahre zuvor ebenfalls Krieg waren, den wir schändlich verkannt haben, und wir haben gelernt, dass Krieg nicht nur dann Krieg ist, wenn er vor unserer Haustür tobt oder einen Block weiter. Wir haben gelernt, dass Krieg überall gleich furchtbar ist und dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem wir begreifen müssen: So, wie wir mit der Welt umgehen, die wir alle zum Leben brauchen, wird dieser Krieg nicht der letzte Krieg bleiben.

Ich werde daher nicht aufhören können, die Wochen zu zählen – was wäre das für ein Zeichen? – solange das riesengroße Land nicht aufhört, das überfallene Land zu quälen. Es geht hier beileibe nicht darum, wie wir uns fühlen, während die Menschen nebenan Unerträgliches durchleiden. Aber lesen Sie bitte zwischen den Zeilen immer die Hoffnung mit, dass wir irgendwann wieder zusammen lachen können, auch an dieser Stelle, an allen Tagen der Woche.

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