Ein kapitaler Zweifler

Kommunismus-Forscher Gerd Koenen über Karl Marx, den Seismologen der modernen Welt. Eine Würdigung zum 200. Geburtstag.
Die erstaunliche Wirkungsgeschichte, die sich mit dem Namen Marx und dem ihm zugeschriebenen „Marxismus“ verbindet, wird noch erstaunlicher, wenn man sich ihren Ausgangspunkt vor Augen hält. Als er vor seinem Tod gefragt wurde, was er in einer Gesamtausgabe seiner Werke versammelt sehen wolle, soll Marx bitter geantwortet haben: „Welche Werke? Die müsste ich ja erst mal geschrieben haben.“
Aber was waren dann jene 40 blauen, nach Druckerschwärze duftenden Bände der „Marx-Engels-Werke“, in denen viele (der Autor dieser Zeilen eingeschlossen) Anno 1968 noch einmal das gesucht haben, was die Welt im Innersten zusammenhält? Was haben alle die eher ahnungslosen Leute gemeint, die in zahlreichen Umfragen um das Jahr 2000 herum Karl Marx unter die einflussreichsten Denker und Persönlichkeiten der modernen Welt gezählt haben? Was verbindet die Volksrepublik China damit, wenn sie jetzt eine 5,50 Meter hohe, bronzene Marx-Statue der Stadt Trier zum Geschenk macht, weil dieser Denker „die Grundlage für die dramatische Entwicklung Chinas der vergangenen hundert Jahre“ gelegt habe, wie der Staatskünstler und Bildhauer Wu Weishan, seinem Parteichef Xi Jing-ping folgend, sagt?
Dahinter steckt eine lange, gewundene, hoch komplexe Geschichte – die die reale, dauerhafte Bedeutung der von Marx entwickelten Kategorien und Kritiken der kapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsformen fast verdunkelt.
Was Marx bei seinem Tod 1883 hinterließ, waren tatsächlich kaum mehr als vieldeutige Fragmente, allen voran der erste Band des „Kapital“, der keineswegs das angekündigte theoretische Grundlagenwerk war, an dem er zehn oder zwanzig Jahre gearbeitet hatte. Vielmehr hatte er unter dem Druck, endlich etwas Greifbares vorzulegen, eine Arbeit geliefert, die er völlig unprogrammgemäß mit einer Masse von dramatisch arrangiertem historischen und soziologischen Material aufgefüllt hatte. Jenseits der schwierigen, hoch abstrakten Eingangskapitel über den Fetischcharakter und die Metamorphosen von Ware und Geld (an denen die meisten Leser allerdings schon scheitern) führt Marx seine Leser hinab in die danteske Unterwelt der kapitalistischen Lohnarbeit und in den Maschinenraum des industriellen Kapitals, entfaltet er seine Argumentation in einer Mischung (so der Marx-Biograf Francis Wheen) aus Schauerroman und Burleske, Tragödie und Gesellschaftssatire, während seine Schilderungen des proletarischen Elends eines Charles Dickens würdig sind.
Marx scheiterte an seinen eigenen Maßstäben
Nur lässt sich die auratische Wirkung dieses Buchs, das August Bebel ein Jahrzehnt später schon zur „Bibel der Arbeiterklasse“ verklärte, durch seine literarischen Qualitäten schwerlich erklären. Und noch weniger können sie darüber hinwegtäuschen, dass Marx nach seinen eigenen Maßstäben gescheitert war. Seine „Kritik der politischen Ökonomie“ war als Fortschreibung und entscheidende Korrektur der volkswirtschaftlichen Klassik seiner Zeit angelegt. Gesprächsweise soll er (seinem Schwiegersohn Lafargue zufolge) sogar gesagt haben, „dass jeder unparteiische Geist, der ... nicht durch Klassenvorurteile verblendet sei, unbedingt zu denselben Schlüssen gelangen müsse“ wie er. Tatsächlich fand die deutsche Ausgabe des „Kapital“ aber ein sehr verhaltenes Echo, und auch das großteils nur, weil Marx‘ lebenslanger Anreger, Mäzen und Gefährte Friedrich Engels unter falschen Namen und mit verstellter Stimme (mal als Liberaler, mal als Konservativer, mal als Kathedersozialist) die meisten der respektvollen Rezensionen selbst verfasst hatte. In England und Frankreich waren es nur einzelne, von Marx eher misstrauisch beurteilte Sozialisten (darunter seine Schwiegersöhne), die sich zu den ersten „Marxisten“ erklärten.
Auch das, was Engels aus den Bergen unleserlicher Manuskripte posthum zu einem zweiten und dritten Band des „Kapital“ zusammenstellte, ergab kein schlüssiges Ganzes. Statt „das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte“ zu enthüllen, so wie Charles Darwin „das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur“ entdeckt habe, und darüber hinaus „das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise“ offenzulegen, wie Engels dem toten Freund am Grab nachgerufen hatte, erwiesen Marx‘ theoretische Fragmente sich eher als Dokumente eines endlosen, grüblerischen Suchprozesses. Jedem Gesetz, das er formulierte, ob es um die „Verelendung“ der Arbeiterklasse, die „organische Zusammensetzung“ des Kapitals oder den „tendenziellen Fall der Profitrate“ ging, fügte Marx immer zugleich „gegenwirkende Tendenzen“ hinzu, die das soeben Entwickelte stark relativierten. Und im Kernstück seiner Analyse, der (Arbeits-)Werttheorie, war er in wichtigen Fragen, vor allem der Preisbildung, stecken geblieben. Statt die unaufhebbaren Widersprüche und selbstzerstörerischen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise und bürgerlichen Gesellschaft nachzuweisen, wie es seine geschichtsphilosophisch und revolutionär-politisch motivierte Absicht war, lieferte er ebenso viele Beweise für ihre anhaltende Dynamik und Überlebensfähigkeit.
Aber gerade in dieser Doppeldeutigkeit lag ein Teil des Geheimnisses seiner theoretischen und weltanschaulichen Wirkung, des „Marx’schen Momentums“, wie ich es genannt habe. Diese Doppeldeutigkeit hatte auch schon sein im Revolutionsjahr 1848 verfasstes „Kommunistisches Manifest“ ausgezeichnet, das halb ein Hymnus auf die weltverändernde Kraft des Kapitals und halb Prophetie des unvermeidlichen Sturzes der Bourgeoisie gewesen war: „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung der gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche vor allen früheren aus ... Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“
Etwas Derartiges hatte niemand jemals zuvor so gesagt oder auch nur gedacht. Marx war, so könnte man plakativ sagen, der erste, der versucht hat, den Kapitalismus zu denken, nämlich nicht als eine bloße, zu gestaltende „Nationalökonomie“, sondern als eine sämtliche überkommenen Lebensordnungen, Welt- und Wertvorstellungen erschütternde geschichtliche Evolution und soziale Kraftentfaltung. Das Kapital (vom „Kapitalismus“ spricht Marx noch gar nicht) ist demnach eine Maschine zur „Selbstverwertung des Werts“, die keinen Moment stillstehen, sondern die nur in einer sich unendlich fortzeugenden, die ganze Gesellschaft und die ganze Welt erfassenden Bewegung existieren konnte.
Diese zwischen Schrecken und Bewunderung oszillierende Position konnte Marx aber nur einnehmen, weil er die neuen bürgerlich-kapitalistischen Produktions- und Vergesellschaftungsformen und ihre sozialen Folgen weder wie die liberalen Ökonomen und Politiker als bloße Durchsetzung „natürlicher“ Gesetze von Wirtschaft und Gesellschaft sanktionierte, noch sie als „unnatürlich“ und schlechthin menschenfeindlich verwarf, wie die philanthropischen Reformer und utopischen Frühsozialisten es taten, und von entgegengesetzter Warte aus auch die christlichen Konservativen.
Vielmehr kritisierte und brandmarkte Marx die kapitalistischen Produktions- und Vergesellschaftungsformen in ihren zerstörerischen und knechtenden Wirkungen, während er sie gleichzeitig in ihren befreienden und Reichtum schöpfenden Potentialen anerkannte und sogar rühmte. So und nur so fand das schwierige Denkmodell eines „Fortschritts in antagonistischer Form“, getrieben von unaufhebbaren inneren Widersprüchen, das er und Engels in einer Reihe anspruchsvoller geschichtsphilosophischer Schriften entwickelt und vertreten hatten, Anschluss an die aus ganz eigenen Antrieben parallel entstehenden Sozial- und Arbeiterbewegungen. Denn in diesen verbanden sich ebenfalls elementare Abwehrimpulse und eine tiefe Abscheu gegen die universelle Durchsetzung kapitalistischer Waren- und Geldbeziehungen mit einem immer entschiedeneren Kampf zur Nutzung der damit eröffneten Spielräume.
So wurde in den 1890er Jahren, parallel zum eigentlichen take-off der modernen kapitalistisch-industriellen Gesellschaften Europas, der „Marxismus“ zum theoretischen und weltanschaulichen Rückgrat der europäischen Sozialdemokratie, die sich in einer „Sozialistischen Internationale“ zusammenschloss. Aber das war erst möglich, nachdem Engels das Marx’sche Denken in einer Broschüre mit dem programmatischen Titel „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, die ab 1880 in immer neuen Auflagen und vielen Sprachen erschien, in griffige Formeln gefasst hatte. Viele maßgebliche Köpfe des sich formierenden europäischen Sozialismus von Bebel und Kautsky bis Plechanow oder Labriola haben bezeugt, dass sie erst durch die Lektüre von Engels‘ Schriften zu „Marxisten“ geworden seien – und sich mit diesem Leitfaden dann durch Marx‘ „Kapital“ gekämpft haben.
Dass es ohne Engels womöglich keinen „Marx“ und jedenfalls keinen „Marxismus“ gegeben hätte, ist unter den Biografen mittlerweile fast Common Sense. Man dürfte sich tatsächlich schwertun, in der geistigen oder politischen Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart ein Paar zu finden, das wie diese beiden über fast vierzig Jahre so eng, so permanent, so produktiv an einem intellektuellen Gesamtwerk zusammengewirkt hat. Inwieweit Engels‘ Lesart der Manuskripte und zentralen Gedanken von Marx dessen Wahrnehmung bis heute bestimmt und überformt, ist eine andere, immer wieder diskutierte Frage.
Eine Geschichte für sich war von Anfang die Resonanz, die Marx – der seit 1848 ein geschworener Feind des „halb-asiatischen“, despotischen Russland war – und sein „Kapital“ ausgerechnet in der russischen Intelligenzija fand. Er verfolgte das anfangs mit wachem Misstrauen, dann mit verhaltenem Stolz und schließlich mit wachsendem Interesse. Er lernte noch Russisch, vertiefte sich in die russischen Agrarverhältnisse und führte lebhafte Korrespondenzen mit russischen Sozialisten. Die Frage begann ihn zu beschäftigen, ob ein russisches „1789“ der Auftakt zu einer gesamteuropäischen sozialistischen Umwälzung werden könnte, und ob eine revitalisierte russische „Bauernkommune“ womöglich zur natürlichen Ergänzung einer westeuropäischen „Arbeiterkommune“ werden könne.
Marx erlebte nicht mehr, dass in den 1890er Jahren buchstäblich alle Richtungen der russischen Intelligenz sich in sein „Kapital“ vertieften, in dem das Geheimnis der Dynamik der kapitalistischen Länder des Westens enthüllt schien. Unter diesen „Marxisten“ waren auch einige, die später zu führenden Liberalen wurden. Sie destillierten aus den Schriften von Marx eine stufenweise Entwicklungstheorie, die – aus Angst vor der Kolonisierung des Russischen Reiches durch seine fortgeschritteneren westlichen Rivalen – ganz auf einen offensiven Imperialismus setzen.
Dieses Zeitalter des modernen Imperialismus, der im Weltkrieg kulminierte, war dann die Stunde Lenins, des Führers einer „bolschewistischen“ Fraktion der russischen Sozialdemokratie. Lenin las das „Kapital“ als eine lineare Untergangsprophetie des kapitalistischen Weltsystems, und machte aus der marxistischen Doktrin einer politischen Arbeiterpartei die Lehre einer Avantgarde von „Berufsrevolutionären“, ohne die das Proletariat nichts als Staub wäre. Und er fusionierte die von Marx und Engels sporadisch verwendete Formel einer „Diktatur des Proletariats“ – im Sinne einer demokratischen Herrschaft der arbeitenden Mehrheit – mit den in der russischen Intelligenzija gängigen Vorstellungen einer „Diktatur der Aufgeklärten“ über das rückständige Volk. Dem allen gab das Siegel eines wahren, „revolutionären Marxismus“, von dem er 1913 in einer absurden Wendung behauptete: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist.“ Nichts hätte dem ewig suchenden und zweifelnden Marx, bei all seinen absolutistischen Neigungen, ferner liegen können.
Welche Rolle Marx und der westliche Marxismus in den ideologischen Mixturen gespielt haben, die man nach ihren Schöpfern als „Leninismus“ oder „Maoismus“ bezeichnet hat und die Generationen von Kommunisten in den alten, zerborstenen, östlichen Großreichen Russland und China inspiriert haben, ist eine Frage eigener Ordnung. Bei Mao, der als Mitgründer der Kommunistischen Partei Chinas 1921 vom Marxismus so gut wie nichts wusste, ist offenkundig, dass ganz andere, aus alten chinesischen Traditionen geschöpfte Sozialvorstellungen im Zentrum standen. Nichts belegt das vielleicht besser als die für die chinesischen Touristen in Trier aufgestellte Monumentalfigur des in Bronze gegossenen, in der Bewegung erstarrten Marx.