Ist das akademische Ghostwriting clever oder kriminell?

Es ist ein im Dunkeln blühendes Geschäft: Wie viele Studierende schreiben ihre Haus-, Bachelor- oder Masterarbeiten überhaupt noch selbst, sondern lassen sie vielmehr von anderen schreiben? Einblick in eine obskure Branche. Von Andreas Boueke
Der erfahrene Ghostwriter lacht verlegen. Das telefonische Interview fällt ihm schwer. „Also, ich weiß ja, dass es für mich nicht illegal ist, was ich mache. Aber für die Kunden ist es nicht legal. Und insofern bleiben wir lieber bei anonym.“
Nennen wir ihn Karl Klug, denn klug muss man sein, um als akademischer Ghostwriter arbeiten zu können. Aber ist es auch ethisch vertretbar, Menschen zu helfen, die bereit sind, für das Erstellen einer wissenschaftlichen Arbeit Geld zu zahlen, auch wenn man davon ausgehen kann, dass sie die Texte zum Betrug nutzen werden? Karl Klug räuspert sich. Er versucht, sich zu rechtfertigen. Aber dann gibt er doch zu: „Eigentlich hilfst du beim Schummeln. Klar, ja, sicher.“
Schummeln, das klingt wie das Verhalten eines kleinen Kindes, das sich beim Memory-Spiel nicht an die Regeln hält. Der Religionssoziologe Leif Seibert bevorzugt das Wort Betrug: „Ich würde es nicht als Kavaliersdelikt abtun. Ich halte es schlicht für akademischen Betrug.“
„Es gibt viele, die mit geringstmöglichem Aufwand durchkommen wollen“
Der erfahrene Universitätsdozent betreut jedes Semester Dutzende Haus-, Bachelor- und Masterarbeiten. Seiner Meinung nach ist es unerlässlich, dass sich Studierende beim Erstellen dieser Texte an bestimmte Regeln halten. „Aber natürlich gibt es genügend Leute, die versuchen, mit geringstmöglichem Aufwand, oder mit finanziellem statt kulturellem Aufwand, durch die Nummer durchzukommen.“
Der stämmige Mann mit blondem Bart und kleiner Brille ist mit Leidenschaft Wissenschaftler – eine Haltung, die nicht alle Menschen an der Universität teilen. „Ich treffe immer wieder auf eine karrieristische Einstellung, die in der universitären Ausbildung ein notwendiges Übel auf dem Weg zum Geldverdienen sieht. Diese Leute gehen von der Annahme aus, dass die Spielregeln der Universität so praxisfern sind, dass man da nicht so genau hinhören muss.“
Der Ghostwriter Karl Klug legt großen Wert darauf, zu betonen, dass er selbst sich seine beiden universitären Abschlüsse ehrlich erarbeitet hat. Eine wissenschaftliche Karriere ist ihm aber nicht gelungen. „Dann habe ich halt Arbeit gesucht und nicht gefunden. Fast wäre ich in Hartz IV gerutscht. Da habe ich mich lieber selbstständig gemacht. Anfangs bekam ich meine Aufträge über Freunde von Freunden. Zum Beispiel hatte eine Bekannte Probleme, ihre Bachelorarbeit fertigzukriegen. Wir haben einen Preis vereinbart, und ich habe ihr geholfen.“
Wie viele der Millionen Studierenden in Deutschland betrügen?
Niemand weiß, wie viele der fast drei Millionen Studierenden in Deutschland bei ihren schriftlichen Arbeiten betrügen. Doktor Leif Seibert gibt sich zuversichtlich. „Ich bin fest davon überzeugt, dass so was für den Löwenanteil unserer Studierenden überhaupt nicht zur Debatte steht. Aus Gründen der Redlichkeit würden die weder Ghostwriting in Anspruch nehmen noch plagiieren. Aber es gibt eben einen kleinen, aber auch nicht verschwindend geringen Anteil der Studierenden, die auffallen.“
Doch im deutschsprachigen Raum verdienen viele Menschen Geld mit dem Anfertigen wissenschaftlicher Arbeiten für andere. Das weiß auch Seibert: „Ich bin immer etwas entrüstet, weil es tatsächlich die ganze Logik des wissenschaftlichen Arbeitens in Frage stellt. Die Universität ist ja kein obligatorischer Umweg zum Arbeitsmarkt. Wissenschaftliches Arbeiten ist mit einem bestimmten Ethos verbunden. Die Regeln haben einen Sinn. Und wenn so eklatant dagegen verstoßen wird, dann frage ich mich schon: Was wollen die Leute hier eigentlich?“
Glaubwürdigkeit und Transparenz sind Voraussetzungen für gute Wissenschaft. Betrug erschüttert das Vertrauen. Aber auch Ghostwriter bemühen sich um einen Anschein der Vertrauenswürdigkeit. In fast jeder Universität finden sich Flugblätter, auf denen jemand dafür wirbt, dass seine Texte einer Prüfung durch gängige Plagiatssoftware standhalten. Leif Seibert sagt: „Ich finde es besonders dreist, dass solche Aushänge sogar an den schwarzen Brettern hängen. Da werden Leistungen wie Korrekturhilfe, Copyediting oder ähnliches angepriesen. Das Wort Ghostwriter wird vermieden, aber dahinter verbergen sich Agenturen für akademisches Ghostwriting.“
Juristische Probleme brauchen clevere Ghostwriter nicht zu befürchten
Die meisten Ghostwriter kooperieren mit Agenturen, die sich unverhohlen ins Licht der Öffentlichkeit stellen. Sie betreiben Marketing, pflegen Internetauftritte, bieten kostenlose 0800-Nummern zur Kontaktaufnahme an und lassen sich per Paypal bezahlen. Daraus ergibt sich eine stabile Einkommensquelle für Menschen wie Karl Klug: „Ich habe eine Anzeige gesehen und da mal nachgefragt. Es gibt eine ganze Menge solcher Agenturen. Jetzt mache ich das seit 15 Jahren.“
2022 haben mehr als eine halbe Millionen Menschen in Deutschland einen Hochschulabschluss gemacht. Unter den 30- bis 34-Jährigen hat nahezu jeder dritte einen akademischen Abschluss. Von diesem großen Markt profitiert Karl Klug. Juristische Probleme brauchen clevere akademische Ghostwriter in Deutschland nicht zu fürchten. Das sollte sich ändern, sagt der Rechtswissenschaftler Thomas Hoeren, der lange als Richter für Urheberrecht an einem Oberlandesgericht gearbeitet hat. „Diese schwarzen Schafe werden von der gesamten Wissenschaftsgemeinde als total unmoralisch abgelehnt. Aber man kann wenig gegen sie machen.“
Thomas Hoeren ist seit 1997 Universitätsprofessor für Medienrecht. „In der Geschichte der Wissenschaftskultur hat es schon immer solche Fälle gegeben, schon im Mittelalter. Aus dieser Zeit kommt der Begriff plagiarius. Als Hochschullehrer müssen wir gegen Plagiate kämpfen, auch wenn es ein Kampf gegen Windmühlen ist.“
Mit Plagiaten habe das alles nichts zu tun, versichert ein Insider
Bei dem Begriff „Plagiate“ wird der akademische Ghostwriter Karl Klug hellhörig. Damit habe er nichts zu tun, versichert er: „Es kommt öfter vor, dass die Leute mich mit Plagiaten und solchen Dingen in einen Topf werfen. Aber so was mache ich nun gerade nicht. Ich zitiere nicht falsch oder kopiere anderer Leute Texte. Meine Arbeit ist wissenschaftlich völlig korrekt.“
Offenbar pflegen auch akademische Ghostwriter ein professionelles Ethos, obwohl sie wissen, dass ihre Arbeit häufig auf Betrug hinausläuft. „Auf die Kunden mag das zutreffen, aber nicht auf mich“, sagt Karl Klug. „Ich finde schon, dass das ein Unterschied ist. Da wehre ich mich dann doch dagegen, wenn solche Unterstellungen kommen.“
Die akademischen Ghostwriter selbst werden nahezu nie belangt. Aber für die Nutzerinnen und Nutzer ihrer Texte ist die Rechtslage eindeutig, betont Hoeren: „Wir schreiben in jede Prüfungsordnung hinein, dass alle Sachen selbst geschrieben werden müssen. Man muss alles offenlegen und darf sich nicht von Diensten Dritter beeinflussen lassen. Bei jeder Studienarbeit unterschreibt man, dass die Arbeit eigenständig erstellt wurde. Manchmal gibt es sogar die Aufforderung, das unter Eid zu tun. Damit ist das sofort strafrechtlich relevant. Manche Promotionsordnungen kennen da kein Pardon. Die Hochschullehrer haben so viel erlitten, dass sie die Studierenden so deutlich wie möglich darauf hinweisen: ‚Da droht euch was.‘“
Akademische Ghostwriter sehen sich in der Rolle eines Dienstleisters
Trotz solcher Abschreckung ist akademisches Ghostwriting heute die wichtigste Einkommensquelle für Karl Klug. „Im Moment bestreite ich damit meinen Lebensunterhalt. Das hat Vorrang für mich. Die moralische Frage ist mir natürlich bewusst. Ganz gelegentlich denke ich auch darüber nach. Es ist ja nicht so, als ob mir das völlig egal wäre.“
Manchmal verdient Karl Klug in einem Monat mehr Geld als einer der vielen wissenschaftlichen Mitarbeitenden, die sich an deutschen Universitäten von einem Honorarvertrag zum nächsten hangeln. Dieser Weg führt häufig in eine Sackgasse. Dann stehen junge Leute plötzlich mit viel Wissen, aber ohne Zukunftsperspektive da. Hoeren spricht von einem wissenschaftlichen Prekariat: „Wenn jemand Spaß am Schreiben hat, aber aus irgendwelchen Gründen keine Professur oder andere Festanstellung an einer Universität bekommt, dann ist es eine nachvollziehbare Entscheidung, für andere Menschen zu schreiben und ihnen so zu helfen, ihre Titel zu bekommen. Verstehen kann ich das schon, aber ich muss es auch zutiefst verurteilen.“
Karl Klug versteht seine Rolle als die eines Dienstleisters. Im akademischen Ghostwriting sieht er vor allem eine Tätigkeit, die er gerne ausübt: „Weil mich die Themen interessieren, weil ich total viel dabei lerne, und weil ich mich in kürzester Zeit einarbeiten muss. Das ist einfach spannend.“
Die öffentliche Sprachregelung lautet: Es geht nur um eine Art Mustervorlage
Für den Mittfünfziger ist das Verfassen wissenschaftlicher Texte längst keine allzu anspruchsvolle Herausforderung mehr. „Man muss recherchieren und gut querlesen können. Ich kann die ganzen Bücher ja nicht alle komplett durchlesen. Der Rest ist Routine.“
Jede Universität hat andere Vorgaben, wie eine wissenschaftliche Arbeit auszusehen hat. Akademische Ghostwriter müssen sich an viele Formalitäten halten. „Das ist manchmal wirklich hanebüchen“, klagt Karl Klug. „Die eine Uni hat irgendwelche Sonderregelungen, die andere nicht. Keine Ahnung warum. Und natürlich die Frage: Wie sieht es mit Gendern aus? Und dann muss hinter jedem indirekt zitierten Satz eine Quellenangabe stehen. Oder kann man das auch weglassen?“
Das Einhalten dieser Vorgaben ist für viele Kundinnen von Karl Klug eine der höchsten Hürden, weshalb sie sich entscheiden, den Text nicht selbst zu schreiben. „Dann helfe ich ihnen dabei, dass sie das hinkriegen. Die Kunden wissen ja, was sie tun oder was sie nicht tun. Von den Agenturen werden sie darauf hingewiesen, dass unsere Texte nur ein Beispiel sind, wie man so etwas schreiben könnte. Die öffentliche Sprachregelung lautet: Mustervorlage.“
Mit akademischem Ghostwriting verdienen Agenturen gutes Geld
Der Begriff „akademisches Ghostwriting“ wird seit Ende der 1980er Jahre benutzt. Der Ostwestfale Roland Franke behauptet, er habe ihn geprägt. Der promovierte Ingenieur, Diplomökonom und Diplomkaufmann betreibt heute eine von mehreren Ghostwriting-Agenturen mit Sitz in der Schweiz. Er versichert, er könne weltweit „auf 3500 Ghostwriter zurückgreifen“. Auch er spricht davon, dass seine Autorinnen nur Mustertexte verfassen, die von den Kunden als Anregungen genutzt werden. Tatsächlich aber schreiben diese meist keine eigenen Texte, vermutet Karl Klug. „Bei mir kommen jeden Tag mehrere Anfragen rein. Wenn ich mich bewerbe, kriege ich den Auftrag meist. Manchmal auch nicht, dann war halt jemand anderes schneller.“
Mit diesem Arrangement ist Karl Klug zufrieden. Er sagt, manche seiner hilfsbedürftigen Kunden täten ihm leid. „Oft ist das tatsächlich so was wie ein Hilferuf. Es gibt ja Gründe, weshalb die das machen. Sie kriegen es eben selbst nicht hin, vielleicht auch, weil sie nicht die Zeit haben.“
Karl Klug kann auf die Unterstützung der Agenturen zählen. Sie ermöglichen es ihm, sich auf das Verfassen wissenschaftlicher Texte zu konzentrieren. „Ich muss keine Akquise machen. Die Anfragen spülen in meinen Email-Account. Ich muss nur entscheiden: Was gefällt mir? Was gefällt mir nicht?“ Rückmeldungen zur Qualität seiner Arbeit bekommt er nahezu nie. „Sobald ich die lektorierte Endlieferung verschickt habe, erfahre ich in der Regel nichts mehr von dem Projekt. Dann ist der Auftrag vorbei.“
Wie wird die künstliche Intelligenz den Wissenschaftsbetrieb verändern?
Die Dienstleistungen der Agenturen haben ihren Preis. Würde zum Beispiel die Agentur von Roland Franke den Auftrag bekommen, auf zehn Seiten – Standardformat – eine juristische Abhandlung zum Thema „Akademisches Ghostwriting“ zu verfassen, dann würde sie dafür rund 1300 Euro in Rechnung stellen. Ein großer Teil dieser Summe bleibt bei der Agentur. Aber auch ein fleißiger Ghostwriter wie Karl Klug kann von den Einnahmen leben: „Ich vermute, dass ich von der Summe, die der Kunde zahlt, ein Drittel bekomme. Genaue Zahlen will ich da jetzt nicht nennen. Es ist auch wirklich nicht viel. Eigentlich ist es viel zu wenig.“
Die Ghostwriting-Branche schafft schlecht bezahlte, aber attraktive Arbeitsplätze für bedürftige Akademikerinnen und Akademiker. Das findet Rechtswissenschaftler Hoeren beklagenswert. „Dieses System macht uns als Hochschullehrer die Arbeit schwer. Es schafft ein Klima von Misstrauen zwischen Studenten und Hochschullehrern. Und das ist eben nicht gut.“
Schriftliche Hausarbeiten sind seit Jahrhunderten Teil der akademischen Kultur. Bislang war die finanzielle Hürde des Ghostwritings für die meisten Studierenden so hoch, dass sich nur wenige diese Form des Betrugs leisten konnten. Doch das ändert sich gerade, meint der Religionssoziologe Leif Seibert. Er rechnet damit, dass Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz die Bewertbarkeit von Hausarbeiten schon jetzt grundsätzlich in Frage stellen. „Wenn die Texte per Knopfdruck abrufbar sein werden, ohne dass das irgendetwas kostet, dann ist die Prüfungsmethode der schriftlichen Hausarbeiten und Abschlussarbeiten grundsätzlich in Gefahr. Dann braucht es entweder ergänzend oder stattdessen andere Prüfungsmodalitäten.“
Programme der Künstlichen Intelligenz wie ChatGPT könnten auch für das Geschäftsmodell der Ghostwriter zu einem Problem werden, sagt Hoeren: „In den nächsten Jahren wird es eine spannende Konkurrenzsituation geben zwischen Ghostwriting-Büros und ChatGPT.“