Wir Identitäter

Identität ist das Schlagwort der Stunde, zudem ein Kampfbegriff. Denn in Europa wächst derzeit das Bestreben, das Eigene zu definieren – und das heißt auch: sich abzugrenzen.
Passt schon, wie man so sagt, und besonders gerne im Land der Bayern. „Die Identität zwischen Bayern und der CSU war nie so groß wie heute“, sagte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, und das mochte man, als man vor einem Jahr davon hörte, belächeln. Ja, die Bayern. Passt zu ihnen.
Aber passte das wirklich? Nun, der Sozialpsychologe würde sagen, in Fragen der Identität gehe es tatsächlich um eine „Passung“. Handelt es sich doch um den Versuch einer Übereinstimmung zwischen dem Eigenen und dem Anderen, zwischen einem subjektiven Innen und einem gesellschaftlichen Außen. Ich als Vorsitzender einer Partei. Aber wie soll das klappen, ohne Partei?
Dass es allerdings zwischen einem Land, ob nun in einem Bundesland oder einem Staatswesen, und einer Partei eine Identität gebe, das beunruhigt sicherlich nicht nur den Psychologen. Ein solcher Alleinvertretungsanspruch alarmiert politisch. Denn bei wie viel Prozent Übereinstimmung einer Partei mit dem Staatsganzen stellt sich Identität ein? Bei 89 Prozent, bei 98 Prozent?
Das Wort Identität hat in den letzten Jahren immer weitere Kreise gezogen. Als Identität von Audi oder Mercedes oder BMW. Oder als Identität von Bayern München. Oder, ebenfalls unumstößlich, als Identität der Schlecker-Frauen. Erstaunlich, wie das Wort Verbreitung fand, als Marketingbegriff, als raunender Mythos, als Schlüsselwort. Man erinnere sich an die Identität des deutschen Waldes. Identität ist zu so etwas wie einer Pathosformel aufgestiegen, zu einem geradezu irrwitzigen Hoffnungsträger – nicht zu vergessen zu einem rabiaten Kampfbegriff im politischen Konkurrenzkampf.
Hart ist der. Hart, weil er populistisch angespornt wird, zeigt er sich in der Bundesrepublik seit rund zwei Jahren am rechten Rand des Parteienspektrums und wird nicht nur in den nächsten zwei Jahren dort zu beobachten sein. Wenn die CSU auf die politische Pathosformel Identität zurückgreift, hat das viel auch damit zu tun, dass die AfD mit dem Wort hausieren geht, angefangen mit der deutschen Identität. Wer geht zukünftig erfolgreicher von Haus zu Haus?
Mit dem Begriff Identität haben konservative Geister in der Bundesrepublik schon vor geraumer Zeit etwas anfangen können. Sie haben sich zu dem Begriff, anders als die Linke, politisch bekannt bei der Suche nach „nationaler Identität“. Zum Rückblick auf die 70er, 80er Jahre gehört, dass die politische Rhetorik in der Bundesrepublik auf ihrer Suche nach nationaler Identität immer etwas Pathetisches umgab, etwas Verbissenes, auch etwas Tragikomisches.
Ein nationales Selbstwertgefühl war Teilen der Gesellschaft lange auch deswegen suspekt, weil es vor allem Ideologen, darunter Hardliner und Revanchisten verfolgten. Zudem war schließlich immer weniger zu übersehen, wie der Begriff Identität im Osten bei einer Partei satisfaktionsfähig wurde, die die Identität zwischen der SED und der DDR immerzu propagierte. ‘89 war es dann mit den 98-Prozent-Wahlergebnissen vorbei.
Identität wird kulturell in Stellung gebracht
Identitätsanwandlungen, gesellschaftliche Identitätsaufwallungen haben stets etwas mit Verunsicherungen zu tun. Wiederholt hat der heute 91-jährige Zygmunt Bauman darauf hingewiesen, wie sehr Identität eine ideologische Ressource ist. Zugleich, so der Sozialphilosoph, werde so getan, als handele es sich um einen übergeschichtlichen, geradezu „ontologischen Status eines Projektes und Postulats“. Ist nun mal so, dass die Sehnsucht nach Eigenheit, nach kultureller, auch religiöser Eigenart, auch diejenige nach nationaler Besonderheit ungemein weit in der Geschichte ausholt, um hochaktuelle Interessen zu befriedigen. Wenn in Europa derzeit das Bestreben wächst, das Eigene zu definieren, geht es dabei zugleich darum sich abzugrenzen. Grenzzäune sind wieder an den Staatsgrenzen errichtet worden. Gesellschaftliche Gruppen stecken ihre Terrains und Claims auf der Suche nach sozialen, kulturellen und religiösen Eigenheiten immer entschiedener ab.
„Man denkt an Identität, wann immer man nicht sicher ist, wohin man gehört“, so Bauman (der im Laufe seines Lebens zweimal ins Exil vertrieben wurde). Wohin gehört das Ich, wohin das Wir? Es ist nicht erstaunlich, dass der Begriff der politischen Identität nach 1989 Karriere machte – auch eine furchterregende, man erinnere nur an den entsetzlichen Identitätswahn in Jugoslawien, ausgelöst durch die serbische Identitätspolitik eines Slobodan Milosevic, der unter Berufung auf die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 zwischen Serben und Osmanen einen gnadenlosen Identitätskrieg der Serben gegen kulturelle, ethnische und religiöse Minderheiten auslöste. Kollektive Identitäten, obwohl als Konstrukt durchschaubar, setzen immer wieder mörderische Energien frei. Auch der Völkermord in Ruanda geschah im Namen der Identität. „Unheimliche Konjunktur“, so analysierte vor 15 Jahren der Kulturwissenschaftler Lutz Niethammer, hatte die Identität in so verbissen geführten Konflikten wie in Zypern oder im Sudan.
Unter dem Eindruck einer erschreckenden Konjunktur war es der UN-Generalsekretär Kofi Annan, der 1997 die „,Identitätspolitik‘ zur wichtigsten Herausforderung der Weltorganisation erklärte“ (Niethammer). Mit Herausforderung war gemeint, dass er ausdrücklich vor den „negativen Folgen der Identitätspolitik“ als einer „machtvollen und potentiell explosiven Kraft“ (Annan) warnte.
Verteufelung des Anderen, Rechtfertigung brutaler Gewalt, Verweigerung der Menschenrechte: eine Grauen erzeugende Trias, die der Identitätswahn auf die Tagesordnung setzte. Immerhin Mitteleuropa schien auf Abstand zu gehen von einem so zwielichtigen Begriff wie Identität, tauglich als Leitgedanke, um Kriege auszulösen und Bürgerkriege zu befeuern. Daran gemessen ist es seltsam, wie unbefangen er heute wieder benutzt wird, nicht als Kampfbegriff, wohl aber als „Plastikwort“ (der Altgermanist Uwe Pörsken, schon 1992). Es muss ja nicht böse gemeint sein, auch wenn es banal benutzt wird. Darüber steigt die Eckkneipe zum Ort auf, an dem sich die Identität eines Stadtviertels bewahrt hat.
Identität ist eine schier unheimliche Ressource, und wenn sie Fußballvereine mittlerweile in jedem zweiten Halbzeitgespräch beanspruchen, dann nimmt man die Identität alles andere als nur sportlich. Vielmehr versteht man sie krass wirtschaftlich. Kein Transfer, der nicht zur Identität des Vereins passt. Kein Fußballbundesligaverein, der seine Identität preisgeben will. Lieber untergehen, dann schon lieber das Feld räumen, als sich zu verkaufen, als sich einem ausländischen Investor auszuliefern. So jedenfalls wird es kundgetan.
Wie immer ist der Identitätsfaktor Fußball ein aufschlussreicher Indikator. Wo das Wort Identität auftaucht, wird es vom Entweder-Oder umraunt. Die Identität wird kulturell in Stellung gebracht und von der einen oder anderen Burka-Trägerin auch religiös: Die Identität der Vollverschleierung ist unantastbar. Sobald es um Identität geht, geht es gerne um alles oder nichts.
Hinzu kommt noch ein weiteres, nein, nicht ethnisch vermintes Gelände, kein Amselfeld der Identität, sondern ein harmloseres Tummelfeld. Was ist Identität? Hunderte Bücher stellen an den Anfang der Identitätssuche das Ich. Anstelle der sozialen Identität hat die personale Identität unbedingte Priorität. Um mich also auch selbst ins Spiel zu bringen: Worin besteht meine Identität? Dass ich Schuhgröße 43½ habe? Dass ich jeden Morgen die Linie 11 nehme, und, während ich umsteige, die Straßenbahn lieber als die S-Bahn? Was sagt das über meine Identität aus?
Sind das jetzt läppische Fragen, ist das eine unzulässige Zuspitzung? Die Fragen machen ein Dilemma anschaulich, das in der amerikanischen Identitätsforschung schon vor einem halben Jahrhundert angesprochen wurde. Zu viel Identitätsgeschwätz. Identität, zum unverantwortlichen Gerede verkommen, wurde zum Klischee. Zu so etwas wie einem „Hoffnungsträger“ der Selbstfindung. Ich als Kind, ich als Rentner. Ich als Griechin, ich als EU-Bürgerin. Ich als Stadtteilbürger. Nicht von ungefähr hat sich das Wort aus zwei anderen Wörtern ausgemendelt, Charakter und Persönlichkeit, so der französische Identitätsforscher Vincent Descombes.
Unbestritten, dass Identität nicht wegzudenken ist als Form der Selbstfindung und Selbstbehauptung. Beunruhigend bleibt das Tremolo. Wer von Identität spricht, tut es nie gedämpft, oft mit moralischen Obertönen, in einem insgesamt hohen Ton. Nicht nur Selbstbewusstsein ist immer schon im Spiel gewesen, auch Stolz.
Identität pocht auf das Ich wie auf das Wir. Dem politischen Identitätswahn, der sich nicht nur auf den Wir-Wahn der CSU beschränkt, entspricht ein sehr privater Identitätskoller. Die subjektive Seite soll sozial ausgelebt werden. Ich, der ich die Rundfunkgebühren erfolgreich boykottiere, bin ein Held. Die individuelle Identität soll sich sozial tummeln. Ich, der ich im Internet unterwegs bin. Ich, der ich im Internet als Bürger unterwegs bin. Ich, der ich im Internet als Wutbürger unterwegs bin. Ich, der ich Berserker bin. Ich stifte Wut, also bin ich.
Womöglich hat die Identität westlicher Prägung viel mit einer Innerlichkeit zu tun hat, die maßgeblich der Furor eines Martin Luther in die Welt setzte. Mit dem Protestantismus kam eine Haltung auf, die die Innenwelt gegenüber der Außenwelt aufwertete, ja die die Außenwelt dämonisierte, eine Ohne-mich-Haltung klasse fand – dieser Spur, anstelle des berühmten, ausgeprägten protestantischen Pflichtbewusstseins, müsste man ebenfalls einmal nachgehen. Denn das Ineinsgehen, die Identifikation von Protestantismus und Staat hatte ja, zumal im 19. Jahrhundert, zu Bismarcks Zeiten, zu Zeiten des Kulturkampfs, CSU-hafte Züge (auch wenn der Katholizismus zu Preußen-Zeiten ein Verlierer war).
Mit dem Aufkommen des Ich, vor 500 Jahren, zu Zeiten der Reformation, kam es zu der Entdeckung, dass die moderne Gesellschaft aus Individuen zusammengesetzt ist. Wer auf Identität pocht, hat heute ein stark individualistisches Verständnis von Gesellschaft. Das Angebot an „vorgefertigten Identitätsbausätzen im gesellschaftlichen Baumarkt“, so Lutz Niethammer, ist immens. Ich als Wandersmann. Ich als Mitglied eines Fitnessstudios. Ich als Besitzer einer goldenen Kreditkarte.
Sicher, der Identitätswille sucht sich Gleichgesinnte. In der Schulhofclique, in der Motorradgang, in der Teeküche, Wand an Wand zum ätzenden Arbeitsplatz. Das Identitätsbedürfnis ist ich-orientiert, zugleich stark abhängig von sozialen Bindungen. Das heißt seltsamerweise nicht, dass das Identitätsbedürfnis zwangsläufig ein pluralistisches Verständnis von ihr, der Gesellschaft hätte, eines der Mannigfaltigkeit und Vielfältigkeit. Ich als Israelkritiker. Ich als Veganer. Ich als Antifaschist. Allerorten Identitätsaktivisten, allüberall Identitätsziele. Man wird doch noch sagen dürfen: meine Straße, mein Sandkasten, meine Stadt, mein Land.
Bei allem zeigt sich, wie sehr der Identitätsaktivismus einen Impuls zum Einhausen hat. Einhausen hat ein starkes Interesse an Abschottung. Nicht nur Argwohn begegnet dem Anderen, nicht nur ein leiser Vorbehalt dem Fremden. Dabei bleibt es nicht, und auch nicht dabei, dass die Aggression unausgesprochen bleibt.
Wo Identität im Spiel ist, ist der Übereifer immer wieder groß, und mit dem Übereifer einher geht die Unduldsamkeit, die Sehnsucht nach Grenzen. Das Ich sieht sich herausgefordert, erst recht ein „aufgeblähtes Ich“ (Vincent Descombes), das im Namen eines Wir spricht. Je stärker „die Identität“ auf das Eigene aus ist, je verbissener auf Authentizität und Integrität des Selbst, desto stärker das Einhausen, eine Haltung, die sich, schaut man auf Pegida-Demonstranten oder AfD-Propagandisten, kaum noch einhegen lässt. Ich und Ich, Wir und Wir, großgeschrieben, über alles in der Welt.
Identität ist nicht bloß unser aller harmloser Schlüsselbegriff, vielmehr ein Hardliner-Begriff. Identität ist ein primitives Wort. Identität ist ein sozialer Problemfall.