1. Startseite
  2. Kultur
  3. Gesellschaft

Zionismus: Der Traum vom Gemeinwesen ohne Staat

Erstellt: Aktualisiert:

Von: Micha Brumlik

Kommentare

Kinderbetreuung in einem Kibbutz, Aufnahme aus den 30er Jahren.
Kinderbetreuung in einem Kibbutz, Aufnahme aus den 30er Jahren. © imago/United Archives Internatio

Zwei Bücher, die sich mit dem Zionismus als linksradikalem und vor allem auch anarchistischem Projekt befassen, machen deutlich: Die Kolonialismus-Debatte greift hier viel zu kurz

Gegenwärtig, in einer Zeit, in der legitime Kritik an israelischem Regierungshandeln hier und israelbezogener Antisemitismus dort beinahe ununterscheidbar geworden sind, ist es unerlässlich, daran zu erinnern, dass der Zionismus eben auch eine progressive Bewegung war; eine Bewegung, die nicht wenige linke, ja geradezu linksradikale Strömungen aufwies.

Ein Topos der gegenwärtigen Zionismuskritik ist der Vorwurf des Kolonialismus. Zu wenig unterscheidet diese Kritik zwischen Kolonialismus und Kolonisation – ein Umstand, der zumal die ersten jüdischen Siedlungen in Palästina an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrifft. Ging es doch diesen jungen Leuten, die als „Zweite Aliyah“ zwischen 1904 und 1914 das von judenfeindlichen Pogromen heimgesuchte Zarenreich verließen, gewiss nicht darum, erwirtschaftete Reichtümer nach Russland zu reimportieren. Der Zionismus – unbestreitbar eine Kolonisationsbewegung – war schon alleine deshalb kein Kolonialismus, weil er kein Mutterland aufzuweisen hatte.

Zudem, und darauf macht eine bisher zu wenig beachtete Neuerscheinung aufmerksam, war der frühe Zionismus – jedenfalls in und aus Russland – eine nicht nur linksradikale, sondern mehr noch eine anarchistische Bewegung. Eine anarchistische Bewegung, der es zwar nicht darauf ankam, eine gewaltsame Revolution herbeizuführen, wohl aber darauf, ein staatsfreies, auf kommunistischer Grundlage beruhendes Gemeinwesen zu schaffen: einen Verbund von Genossenschaften und kleineren Siedlungen, deren Einwohner und Einwohnerinnen kein Privateigentum kannten und genau deshalb solidarisch wirtschafteten.

Entsprechend weist der Historiker James Horrox in seiner Studie „Gelebte Revolution“ überzeugend nach, in welchem Ausmaß die frühe Kibbuzbewegung eben nicht von Marx, Engels oder Lenin geprägt war, sondern von zwei Theoretikern, die heute kaum noch bekannt sind: von Peter Kropotkin und Gustav Landauer.

Peter Kropotkin (1862-1921) publizierte 1902 sein bahnbrechendes Werk „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“. Gustav Landauer, 1870 geboren und 1919 von Mitgliedern eines rechtsradikalen Freikorps ermordet, trat, Proudhon und Bakunin verpflichtet, 1893 auf dem Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongress der II. Internationale in Zürich für einen „anarchistischen Sozialismus“ ein. Als Folge dieses Auftritts wurde seine Gruppierung ob ihrer grundsätzlichen Ablehnung des Staates aus der II. Internationale ausgeschlossen.

Die Bücher:

Michael Uhl: Betty Rosenfeld. Zwischen Davidstern und roter Fahne. Biographie. Schmetterling, Stuttgart 2022. 672 S., 39,80 Euro.
James Horrox: Gelebte Revolution. Anarchismus in der Kibbuzbewegung. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2021. 259 S., 4,80 Euro.

Noch im März 1919, kurz vor seinem gewaltsamen Tode, korrespondierte Landauer mit dem Zionisten und späteren Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, der damals mit dem Sozial- und Religionsphilosophen Martin Buber eine Konferenz in München einberufen wollte. In seinem Schreiben an Landauer gab Goldmann zu Protokoll, dass es dem Zionismus nicht um eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel – man war doch nicht marxistisch – gehe: „Uns allen schwebt so etwas wie eine genossenschaftlich organisierte Fabrik vor, an der die Arbeiter ebenso wie der Unternehmer beteiligt sind ... .“ Wenige Tage später antwortete Landauer: „Man braucht wahrhaftig kein Marxist zu sein, um die Profitwirtschaft völlig auszuschließen (…) Hierher gehört vielmehr die Frage des äquivalenten Tausches, der zinslosen Geldwirtschaft und des gegenseitigen Kredits.“

Indes war die zunehmend in unterschiedlichste ideologische Gruppen aufgespaltene Kibbuzbewegung – diesen Umstand unterschlägt Horrox nicht – den eigenen Prinzipien zum Trotz in die Gründung eines Staatswesens eingebunden; eines jüdischen Staatswesens, das unvermeidlich in Konflikt mit der ansässigen arabischen Bevölkerung Palästinas geraten musste. War es doch der Kibbuzbewegung im Ganzen nicht gelungen, unter der arabischen Bevölkerung gleichgesonnene Mitstreiter und Mitstreiterinnen zu gewinnen – wenngleich mindestens die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Polen gegründete Bewegung „Hashomer Hatzair“ (übersetzt: Der junge Wächter) das versuchte.

Auf jeden Fall differenzierte sich die Kibbuzbewegung aus, schuf eigene Organisationen und ordnete sich unterschiedlichen Parteien der entstehenden nationalen jüdischen Gemeinschaft in Palästina, des „Jischuw“, zu. Bei alledem war das Interesse vieler Mitglieder der Kibbuzim am politischen Weltgeschehen zumal in den 1930er Jahren ungebrochen; so schreibt Horrox: „Während des spanischen Bürgerkrieges gab es ein großes Interesse innerhalb der Kibbuzbewegung an den Aktivitäten der anarchistischen Milizen in Spanien.“ Viele Anarchisten und Anarchistinnen aus der Kibbuzbewegung seien in den dreißiger Jahren nach Spanien gereist, um sich den Milizen der anarchistischen Bewegung anzuschließen.

Damit schließt sich ein Kreis und wird eine Brücke zu einer der bemerkenswertesten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs geschlagen: zu Michael Uhls „Betty Rosenfeld. Zwischen Davidstern und roter Fahne“. Erzählt wird die Geschichte dreier Schwestern, die in Stuttgart zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer assimilierten, bürgerlichen, jüdischen Familie aufwuchsen: Elisabeth, Charlotte und Ilse: drei Mädchen, drei junge Frauen, die – ohne dramatische Radikalisierungsschübe – von der Jugendorganisation des „Centralvereins Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, den „Kameraden“, Ende der 20er Jahre Schritt für Schritt in den Umkreis kommunistischer Organisationen gelangten.

Das antisemitische Regime des nationalsozialistischen Deutschland legte es jungen jüdischen Menschen nahe, zu emigrieren – in nicht wenigen Fällen nach Palästina. So auch Elisabeth Rosenfeld: Als die 1907 in Stuttgart geborene, dort zur Krankenschwester ausgebildete junge Frau 1935 nach Palästina ging, um dort in Kfar Yedidja, einem von deutschen Zionisten gegründeten Kibbuz zu arbeiten, war sie längst – wenn auch im weitesten Sinne – kommunistisch eingestellt. Und zwar so sehr, dass sie nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs den Entschluss fasste, sich dort den internationalen Brigaden anzuschließen.

So fuhr Elisabeth Rosenfeld 1937 von Haifa mit einem Schiff nach Frankreich, von wo sie nach Spanien gelangte, um dort bis zum Ende des Bürgerkriegs 1939 als medizinische Helferin zu wirken. Nach Francos Sieg floh Betty Rosenfeld nach Frankreich, wo sie 1942 vom Vichy-Regime in Gurs inhaftiert wurde. Über Drancy wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Aus James Horrox alles andere als unkritischer Geschichte der Kibbuzbewegung sowie der anrührenden Lebensgeschichte Betty Rosenfelds lässt sich lernen, dass die Zionismus/Kolonialismus-Debatte bei weitem zu undifferenziert geführt wird und daher tatsächlich zu „israelbezogenem Antisemitismus“ führen kann.

Auch interessant

Kommentare