Worum es bei dem Reizthema Benin-Bronzen wirklich geht

Der Streit um die Rückgabe geraubten Kulturguts offenbart ein anhaltendes Desinteresse an afrikanischer Kultur. Eine Erinnerung als Zwischenruf.
Bei den Gesprächen in der nigerianischen Metropole Lagos hörten wir das Wort Benin sehr oft, ohne dessen Bedeutung vollends zu durchdringen. Auf Einladung des Goethe-Instituts hatte ich 1998 die Gelegenheit, an einem Workshop mit nigerianischen Journalisten teilzunehmen, in dem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Berufsbildes herausgearbeitet werden sollten. Die Veranstaltung fand, wie sich kurze Zeit später herausstellen sollte, in den letzten Tagen eines diktatorischen Regimes statt. Sani Abacha, der brutale nigerianische Despot, war bald nach unserer Abreise an den Folgen einer Krebserkrankung gestorben. Drei Jahre zuvor hatte er den Schriftsteller Ken Saro Wiwa und acht weitere Oppositionelle nach einem spektakulären Schauprozess hinrichten lassen.
Benin, so viel immerhin hatten wir gelernt, war ein untergegangenes Königreich, das für die jungen Nigerianer einen wichtigen Bezugspunkt darstellte. Das Wort Identitätspolitik war damals nicht sehr geläufig, das Thema hingegen beschäftigte die Kollegen sehr. Kurz zuvor war ein Essay des Journalisten Peter Enahoro mit dem Titel „How to be a Nigerian“ erschienen, in dem dieser in einer Art Gebrauchsanweisung für sein Land einen ironischen Blick auf die Widersprüche und Eigenheiten des noch jungen Staates warf. Weit davon entfernt, den Diskussionen unserer Kollegen in allen Einzelheiten folgen zu können, wurden wir mit dem Bedürfnis, aber auch den Schwierigkeiten der nigerianischen Identitätsbildung konfrontiert.
Weit mehr als 200 Stämme
Weit prägender als das Bekenntnis zum mit mehr als 200 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten afrikanischen Nationalstaat schien die Bindung an die Herkunft und Zugehörigkeit zur jeweiligen Volksgruppe zu sein. Igbo, Hausa und Yoruba gelten als die größten der weit über 200 Stämme auf Nigerias Staatsgebiet. Benin City ist mit etwa zweieinhalb Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt des westafrikanischen Landes sowie die Hauptstadt des Bundesstaates Edo. Zugleich bezeichnet Edo auch eine Sprache, die von rund einer Million Menschen gesprochen wird.
Hatten wir damals nach derart lexikalischem Wissen gefragt? Eher nicht. Es ging in unseren von frappierender Freundlichkeit und Neugier getragenen Runden um die politische Zukunft des Landes. Unser Zusammentreffen, so waren die Vertreter der nigerianischen Zeitungen sicher, werde aufmerksam vom Regime bespitzelt. Wir nahmen es besorgt zur Kenntnis, konzentrierten uns aber bald wieder auf die Gespräche über Kunst und Kultur. Immer wieder ging es dabei um Fela Kuti, den libertären Freigeist und genialischen Begründer des Afrobeats, der 1997 gestorben war.
Ein entfernter Verwandter führte uns durch den sogenannten Shrine, jene Künstlerkolonie in Lagos, die Fela Kuti in seinen letzten Lebensjahren zum Ausgangspunkt seiner musikalischen und spirituellen Experimente gemacht hatte. Wir trafen auf Seun Kuti, den jüngsten Sohn Felas, der im Shrine mit Kutis Band Egypt 80 das musikalische Erbe seines Vaters verwaltete; sein älterer Bruder Femi Kuti war ein bereits in der internationalen Jazz-Szene anerkannter Musiker. Bei einer Art Audienz ließ der damals 14 Jahre alte Seun keinen Zweifel daran, dass es eine Ehre für uns sei, mit ihm sprechen zu dürfen. Es machte uns auf kuriose Weise deutlich, wie tief und scheinbar unwiderruflich das Verständnis eines kulturellen Erbes verankert sein kann.
An die Tage in Lagos muss ich oft denken, seit die kulturpolitische Entscheidung, die in deutschen Museen befindlichen und von der britischen Kolonialmacht geraubten Artefakte aus dem einstigen Königreich Benin an Nigeria zurückzugeben, wie eine Staatsaffäre behandelt wird. Außenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth ist zuletzt wiederholt unterstellt worden, eine kurzsichtige Form der Symbolpolitik betrieben zu haben. Aus postkolonialer Ahnungslosigkeit heraus, so eine zugespitzte Lesart, wiederholten sie Gesten kolonialer Überheblichkeit.
Obwohl sie zu Recht darauf beharrten, dass ihre Ansprechpartner allein Vertreter des nigerianischen Staates sein könnten, wurde dies als nachgetragene Ausflucht aufgefasst. Ihr Argument, dass direkte Verhandlungen mit Nachfahren des Königreichs Benin als Einmischung in innere Angelegenheiten misszuverstehen seien, wurde kurzerhand weggewischt. In der Tatsache, dass die afrikanischen Nationalstaaten ja bereits eine Folge kolonialer Herrschaft seien, sahen Kritiker und Kritikerinnen implizit ein Indiz für deren Illegitimität. Ein diplomatisches Dilemma? Selber schuld! Im Diskurs über postkoloniale Verantwortung werden Fragen von Herkunft und politischer Legitimation bunt miteinander vermischt. Wenn die Kernfrage „Wer spricht?“ überhaupt gestellt wird, wird sie nicht selten in Form von ideologischen Stereotypen beantwortet.
Tatsächlich ist die Asymmetrie der staatlichen Nachfolgebeziehungen kaum hinreichend beachtet worden. Diese angemessen zu berücksichtigen, wird für vergleichbare Auseinandersetzungen von enormer Bedeutung sein. Wenn die Frage, wer mit wem spricht, im Kontext einer bedingungslosen Rückgabe von Raubgut bereits derart komplex und störungsanfällig ist, gewinnt man eine Ahnung von der Schwierigkeit von Verhandlungen über mögliche Forderungen seitens der Nachfolgestaaten der einstigen deutschen Kolonien auf den Staatsgebieten Kameruns und Namibias.
Nur eine Ablenkung?
Zur wohlfeilen Kritik an den Aktivitäten der deutschen Außenpolitik gehört die nicht weiter differenzierte Annahme, dass die Bundesrepublik politisch und moralisch in der Nachfolge des Deutschen Reiches stehe. Dabei wird außer Acht gelassen, dass Diplomatie und gesellschaftliche Verantwortung aus unterschiedlichen Staatssphären kommen und verschiedener Voraussetzungen bedürfen. Wiederholt wurde Baerbock und Roth vorgehalten, die Rückgabe der Benin-Bronzen als generöse Geste zu inszenieren, um dadurch von längst überfälligen Reparationen abzulenken. Wer indes nicht nur nach juristischen, sondern auch nach gesellschaftlich tragfähigen Lösungen sucht, bedarf eines ausgeprägten historischen Bewusstseins zur Bewertung vielfältiger Sprecherpositionen und ihrer Legitimation in der postkolonialen Konstellation. Es gibt Bewegungen und Motivlagen, die sich des unmittelbaren politischen Einflusses entziehen. Vielleicht ließe sich so gesehen der Fall Benin auch als faszinierende Lerngeschichte und Glücksfall beschreiben.
Das sprunghaft angestiegene Interesse an den Benin-Bronzen und ihrer Geschichte jedenfalls bedarf dringend der Ergänzung durch wechselseitiges Interesse an kultureller und politischer Wahrnehmung. Wenn dabei Afrobeat erklingt, bleibt er nicht auf das nigerianische Territorium beschränkt. Zur perkussiven Dynamik dieses vitalen Musikstils gehört die Entdeckung, so jedenfalls lautete die haltbare Botschaft des lange zurückliegenden Besuchs in Fela Kutis Shrine, dass dessen Wurzeln in der Hybridität liegen.