„Tauben im Gras“ und das N-Wort: Wer spricht? Und mit wem?

Rassismus, Literatur und Literaturvermittlung: Eine Lehrerin wehrt sich gegen Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ als Abiturstoff.
Bewusstseinsstrom – ich musste kurz nachdenken, was Stream of Consciousness eigentlich auf Deutsch heißt, jene Erzähltechnik, die eng mit James Joyce‘ „Ulysses“ verknüpft ist, eines der herausragenden Werke der literarischen Moderne. Es hat Schule gemacht, der Bewusstseinsstrom wurde adaptiert, abgewandelt, kopiert, weitergetrieben.
„Frau Behrendt trank Maxwell-Coffee. Sie kaufte den Kaffee beim Juden. Beim Juden – das waren schwarzhaarige, gebrochenes Deutsch sprechende Leute, Unerwünschte, Ausländer, Hergewehte, die einen vorwurfsvoll aus dunkelschimmernden, nachtverwehten Augen ansahen, von Gas und Grabengräben wohl sprechen wollten und Hinrichtungsstätten im Morgengrauen, Gläubiger, Gerettete, die mit dem geretteten Leben nichts anderes zu beginnen wussten, als auf den Schuttplätzen der zerbombten Städte (warum mit Bomben beworfen? Mein Gott, warum geschlagen? für welche Sünde bestraft? (...)“
Weil es endlos so weiterzugehen scheint, fällt es schwer, das Zitat abzuschließen. Es stammt aus Wolfgang Koeppens 1951 erschienenen Roman „Tauben im Gras“, dessen Handlung mutmaßlich in München angesiedelt ist, etwa um 1950.
Es waren jedoch nicht diese unschwer als judenfeindliche Stereotype zu erkennenden Sätze, die die junge Lehrerin Jasmin Blunt aus Ulm unlängst dazu bewogen haben, sich in Gestalt einer Petition gegen „Tauben im Gras“ als Abiturstoff an baden-württembergischen Schulen einzusetzen. Vielmehr wehrt sie sich gegen das vielfach vorkommende N-Wort. Das Romanpersonal sucht sogenannte „Negerklubs“ auf und Frau Behrendt, eine der Figuren des vielstimmigen Textes, lässt der Autor räsonieren: „Was brachten einem die Amerikaner? Es war schimpflich, dass Carla sich mit einem Neger verbunden hatte; es war fürchterlich, dass sie von einem Neger geschwängert war; es war ein Verbrechen, dass sie das Kind in sich töten wollte. Frau Behrendt weigerte sich, weiter darüber nachzudenken.“
Jasmin Blunt hat dies unmissverständlich als Ausdruck von Unterdrückung und Entmenschlichung verstanden und den Schuldienst quittiert, um sich der rassistischen Sprache nicht weiter aussetzen zu müssen. Was man sich bewusst machen müsse bei dem Thema, wird sie vom Sender SWR zitiert, sei, dass die Sprache tatsächlich den Rassismus transportiere – und zwar in ihre Lebenswelt hinein. Das sei nicht abstrakt, sondern betreffe sie direkt. „Das ist ein brutaler Angriff auf meine Menschenwürde.“
Ganz sicher sind derart starke Empfindungen ein Indiz für die Wirkung von Literatur. Aber folgt aus der Wucht der Emotionen einer für literarische Vermittlung zuständigen Lehrerin bildungspolitischer Handlungsbedarf? Baden-Württembergs grüne Kultusministerin Theresa Schopper weist die Vorwürfe zurück. Sie hält an der Pflichtlektüre von „Tauben im Gras“ fest. Es gehe darum, deutlich zu machen, wie Rassismus Gesellschaften prägt: damals in den 50er Jahren, als der Roman entstanden ist, aber auch heute. „Das zu behandeln, finde ich sehr wichtig“, so Schopper gegenüber der Südwest Presse.
Sie widerspricht damit den rund 3000 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner einer von Jasmin Blunt initiierten Petition, die darin ihre Ansicht artikulieren, dass das Buch für den Unterricht ungeeignet sei, weil betroffene Schüler, Schülerinnen und Lehrkräfte während dessen Besprechung immer wieder rassistischer Diskriminierung ausgesetzt würden, „indem rassistische Begriffe, in diesem Fall das N-Wort, laut in der Unterrichtssituation vorgelesen werden“. Ist die Petition bloß eine Petitesse oder steht sie für einen Paradigmenwechsel in der öffentlichen Wahrnehmung von Literatur und Kunst?
Ich bin Wolfgang Koeppen Ende der 80er Jahre begegnet, der FU-Germanist Hartmut Eggert hatte mir mit Hilfe des Berliner Literaturhauses in der Fasanenstraße einen Kontakt vermittelt. Koeppen war damals bereits über 80 Jahre alt, er trat nur noch selten in der Öffentlichkeit auf. Der Termin im Literaturhaus war eine Ausnahme. Ohnehin wurde mehr über das Schweigen des Autors gesprochen und in langen Feuilletonartikeln geschrieben.
Seit jener in kurzer Folge erschienenen Romantrilogie in den 50er Jahren, deren Auftakt „Tauben im Gras“ bildet, hatte Koeppen nur wenig veröffentlicht. Jahrzehnte lang war von einem großen Romanprojekt die Rede, aus dem jedoch nichts wurde. Der Schriftsteller Koeppen, ein Phantom. Er lebe in einem Roman, hatte er wiederholt gesagt, was ihn daran hindere, einen anderen zu schreiben. Manche deuteten das als Ausflucht.
Zum Interview hatte Koeppen sich bereiterklärt, weil es gar nicht um sein Schreiben gehen sollte. Ich hatte um Auskunft gebeten über seinen ersten Verleger Bruno Cassirer, der Koeppens Romane „Eine unglückliche Liebe“ und „Die Mauer schwankt“ 1934 und 1935 herausgebracht hatte, kurz bevor er seinen Verlag aufgrund seiner jüdischen Herkunft schließen musste. „Die Mauer schwankt“ war, wie Cassirers Cheflektor Max Tau berichtete, erst durch massiven Druck entstanden, den Cassirer auf Koeppen ausgeübt hatte. Damit der schreibgehemmte junge Autor sein bereits mit einem stattlichen Vorschuss versehenen Roman beende, hatte der Verleger ihn kurzerhand in eine Berliner Wohnung einsperren lassen, die er erst mit einem abgeschlossenen Manuskript wieder verlassen durfte.
Mir war Koeppen als reizend-schüchterner Mensch begegnet, dem es ein Anliegen war, über den in Deutschland weitgehend vergessenen Bruno Cassirer zu sprechen. Zu Beginn der 30er Jahre hatte Koeppen Cassirer auf dessen Gestüt bei Templin und auf der Rennbahn in Mariendorf besucht. Der Verleger und leidenschaftliche Kunstsammler war ein bedeutender Pferdesportfunktionär und Züchter, über den ich ein Hörfunkporträt anzufertigen beabsichtigte.
Wolfgang Koeppen war für dieses Vorhaben eine aufschlussreiche O-Ton-Quelle. Es bereitete ihm spürbar Freude, über Cassirer Auskunft geben zu können. Im Verlauf des Gesprächs beschrieb er ihn als deutschnationalen Juden. Als Koeppen bemerkte, dass ich ob der Formulierung stutzte, fügte er erläuternd hinzu, diesen Typus habe es vielfach zu jener Zeit gegeben. Cassirer sei ein Herr gewesen. Koeppen sprach dabei mit einer Betonung, von der er sogleich zu ahnen schien, dass die Bedeutung des Wortes in ihrem vollen Umfang bereits verlorengegangen sei. Es fiel das Wort Patriot, aber Koeppen war sicher, dass es nun wohl missverstanden werden würde.
Cassirer war ein angesehenes Mitglied der Berliner Gesellschaft, hochrangige Wehrmachtsoffiziere zählten zu seinen Freunden. Nicht zuletzt deshalb sei es ihm und seiner Familie wohl gelungen, 1938 noch nach den Novemberpogromen nach Oxford zu emigrieren. Cassirer habe es lange nicht für möglich gehalten, dass es so weit kommen würde.
Das Gespräch mit Koeppen ist mir vor allem deshalb unvergesslich geblieben, weil mir damals auf emphatische Weise bewusst wurde, wie persönliche Erinnerung und authentische Erfahrung sich von Texten und Materialien unterscheiden, die sich in Form von Dokumenten und Aufzeichnungen nachlesen lassen. Koeppens Schilderungen haben mir auf nachhaltige Weise, so bilde ich es mir ein, dabei geholfen, mein Bild von Bruno Cassirer und natürlich auch das des Autors abzurunden.
„Tauben im Gras“ ist ein furioses, aus vielen Stimmen bestehendes Werk. In diesen Stimmen schießen Vergangenes und Gegenwärtiges zusammen, Assoziationen, Phrasen, philosophische Entwürfe. Nicht immer scheinen die rund 20 Figuren trennscharf voneinander geschieden. Wer spricht? War es Koeppen, der die Stimmen orchestrierte oder gingen sie durch ihn durch? Die Gewaltverhältnisse der nationalsozialistischen Gesellschaft sind in „Tauben im Gras“ ebenso präsent wie der Rassismus, der Koeppens Protagonisten Odysseus und Washington Price entgegenschlägt, zwei Soldaten der amerikanischen Besatzungsarmee, die sich damit abfinden müssen, nicht als Befreier begrüßt zu werden. Aber waren sie nicht auch Stellvertreter einer unterdrückten Sehnsucht nach Jazz und Literatur, den Ausdrucksformen künstlerischer Freiheit?
In ihrem Bestreben, „Tauben im Gras“ als Unterrichtsstoff zu löschen, hat Jasmin Blunt Unterstützung durch die Literaturwissenschaftlerin Magdalena Kißling von der Universität Paderborn gefunden. Diese kritisiert den Mangel an Sensibilität für die Macht von Sprache. Und deren Kollegin Andrea Geier konstatiert einen Mangel an Unterrichtsmaterialien für den Umgang mit rassistischer Sprache.
Ähnlich sehen es Vertreter und Vertreterinnen der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und der Amadeu-Antonio-Stiftung. Deren Sprecherin Rosa Fava gab zu Protokoll, dass eine häufige Nennung erniedrigender Fremdbezeichnungen auf junge Menschen „überwältigend“ wirken könne. Fragwürdig sei überdies, dass für die Behandlung des Themas Rassismus in Abiturprüfungen Literatur eines nichtschwarzen Autors ausgewählt worden sei.
Es ist im Umgang mit Erzeugnissen der Kunst und Literatur zweifellos richtig und wichtig, Fragen der Repräsentanz aufzuwerfen und darüber hinaus zu bemerken, wie sich Wahrnehmungen im Verlauf der Rezeption eines Werkes verändern. Aber erweisen sich die Versprechen der Aufklärung nicht als fatale Illusion, wenn Akademiker und Akademikerinnen, die mit der Vermittlung von Kunst und Literatur betraut sind, vor einer zeitgenössischen Rezeption lieber kapitulieren, anstatt einen Ansporn darin zu sehen, das Handwerkszeug zu schärfen und es zur Geltung zu bringen? Anlass zur Sorge bereitet die anhaltende Diskussion um „Tauben im Gras“ auch deshalb, weil selbst erfahrene Vertreterinnen der Literaturwissenschaft scheinbar nur bedingt Zutrauen in die Fähigkeit von jungen Menschen vor dem Abitur haben, eigene Antworten auf derlei Fragen zu finden.
Keineswegs unerheblich scheint mir in diesem Zusammenhang, dass die eingangs zitierten antisemitischen Stereotypen, die in „Tauben in Gras“ zwar von rassistischen unterschieden, inhaltlich und hinsichtlich der Erzählstruktur des Romans jedoch nicht von diesen abgetrennt werden können, in der Debatte um die Abiturtauglichkeit des Stoffes bislang unerwähnt geblieben sind.
Wolfgang Koeppen hat in „Tauben im Gras“ in atemberaubender Gegenwärtigkeit und Intensität die Dämonen der zeitgenössischen Gesellschaft zum Tanzen gebracht, während sich deren Akteure bereits wohlig wieder daranmachten, in die gediegene Langeweile der Zivilität einzukehren, die sie kurz zuvor zum Bersten gebracht hatten. Der Unruhe dieses Romans nachzuspüren, sollte nicht nur Lehrstoff für junge Erwachsene sein. Geboten ist vielmehr, durch direkte und vergleichende Lektüre die Temperatur der gegenwärtigen Gesellschaft zu ermitteln, die der Empfindsamkeit und Sensibilität aus vielen guten Gründen einen hervorgehobenen Rang einräumt, den Sinn für das Andere vorangegangener Gesellschaften aber zu verlieren droht.