Wohnen ist nicht mehr selbstverständlich

Zimmer werden Zonen, wir senden Privates aus dem Bett und prügeln uns um eine Mietwohnung. Wir brauchen neue Modelle.
Wohnen war mal wie Fahrradfahren: Einmal gelernt, klappte es immer: als WG, Einzimmerküchebad, Loft oder Familienbude im Grünen. Doch inzwischen ist das bundesdeutsche Wohnmodell aus dem Tritt geraten. Und das hat viele Gründe, vor allem monetäre. In manchen Städten gleicht die bezahlbare Wohnung einem Lottogewinn. Zehntausende protestierten in den letzten Jahren gegen den „Mietwahnsinn“. Berlin versuchte es mit dem Mietendeckel, bayerische Bürgerinnen und Bürger mit dem Volksbegehren „6 Jahre Mietenstopp“ – sie scheiterten im Februar mit ihrer Klage gegen den von der Landesregierung verfügten Stopp des Begehrens (wegen der – nun vom Bundesverfassungsgericht bestätigten – Nichtzuständigkeit des Freistaats).
Dabei müssen wir nur vor die Tür treten, um zu erkennen, dass Betongold immer neue Anlagen sucht. Dachgeschosse werden ausgebaut, Bestandbauten modernisiert und die letzten Freiräume nachverdichtet. Gewinner des Wettlaufs um moderne Wohnformen waren für Investoren vor allem Mikroapartments. Die kleine, ultrakompakte Wohnung, früher Einsteigermodell für junge Menschen, klingt nun nach Endstation. Die Wohnungsgrößen stagnieren, obwohl wir im Schnitt immer noch 47,4 Quadratmeter Wohnfläche pro Person beanspruchen. Natürlich sind die Behausungen höchst ungleich verteilt.
Die Wohnung mag laut Artikel 13 des Grundgesetzes unverletzlich sein, doch ihre Grundpfeiler wanken. Das Büro dehnt sich im Homeoffice ungeniert auf das Wohnzimmer aus. Und Schule findet plötzlich am Küchentisch statt oder per Laptop, Handy oder Pad im Kinderzimmer. Nichts ist mehr wie gewohnt. Das Geschäftsmodell der digitalen Plattformökonomie dringt in die letzten Freiräume namens (Patchwork)-Familie und Privatsphäre. Wenn das moderne Wohnen einmal auf vier Säulen ruhte: sozial als Ort der Zweigenerationen-Familie, funktional als Ort von Freizeit und Reproduktion, sozialpsychologisch als Sphäre von Intimität und ökonomisch als käufliche oder vermietbare Ware, so steht davon gerade noch der letzte Pfeiler – das Wohnen als verwertbare Immobilie. Alles andere ist zusammengebrochen, hat sich aufgelöst oder ist im digitalen Fluss.
Heutiges Wohnen muss widerstreitende Nutzungen und Wünsche auf begrenztem Raum zusammenbringen: Beziehung und Arbeit, Familie, Schule und Freunde – mit dem Mobilgerät als zentraler Steuereinheit des Smart Home. Online-Angebote ersetzen Bücherwände und CD-Kollektionen. Die fortschreitende Digitalisierung lässt Vorstellungen von draußen und drinnen, Arbeit und Freizeit, Ich und Welt verwirbeln. In der Folge verändert sich die Balance von Privatheit, ja Intimität und Öffentlichkeit – und die Art, wie wir uns medial präsentieren.
Es entstehen Hybride, Wohnschlafarbeitszimmer oder Küchenkinderzimmer, eigentlich auch keine Zimmer mehr, die einem klar umrissenen Zweck dienen, sondern Zonen, die mal so, mal so – und überhaupt immer anders bespielt werden können. Was nach großer Freiheit klingt, entspringt meist finanziellem Zwang. Schrankbetten und Schlafsofas, Sekretäre und Kombimöbel boomen, weil wir uns die Fünf-Zimmer-Altbauwohnung nicht leisten können.
Früher fiel die Tür ins Schloss und die Freizeit begann. Das ist längst anders. Die digital perforierte Wohnung spiegelt eine entgrenzte Gesellschaft, die agiles Arbeiten und Denken rund um die Uhr (24/7) ins Haus holt und die das Private, manchmal sogar das Intime sendefähig macht. Willkommen im hybriden Heim, in dem sich monofunktionale Zimmer mit jenen Ritualen auflösen, für die sie lange Zeit reserviert waren – wie dem gemeinsamen Fernsehabend.
Wohnen ist im Wandel. Es entstehen Räume ohne klare Zuordnungen, Wohnküchenspielarbeitszimmer, die mal italienisches Restaurant sind, mal Fanblock eines gestreamten Fußballstadions, mal der Ort für die Hausaufgaben. Arbeiterschließfächer hießen die standardisierten Plattenbauwohnungen der DDR verächtlich, nun nähern wir uns Digitalarbeiterdropboxen, die jeden Quadratmeter optimieren. In London werden bereits Apartments ohne Küche angeboten, weil mehr als eine Kochplatte und ein Toaster nicht mehr drin sind. Selbstversorgung ist hier ein Fremdwort. Ohne Heerscharen radelnder Dienstboten und Coffee-to-Go sind solch optimierte Wohnwaben undenkbar. Existenzminimum definiert sich da als WLAN mit hoher Bandbreite und der Möglichkeit, ein Fenster zum Hof zu kippen.
Die Moderne definierte Fortschritt durch fließend Wasser, Zentralheizung, Kochnische und Nasszelle. 1927 sagte Ludwig Mies van der Rohe, dass sich „ein neues Wohnen über die vier Wände hinaus auswirken“ werde und sah darin einen Katalysator gesellschaftlicher Modernisierung. Es ging um „neue Lebensformen“ in einer „veränderten materiellen, sozialen und geistigen Struktur“ der Zeit. Ähnlich können wir heute argumentieren, wenn auch die Herausforderungen größer geworden sind. Doch etwas verbindet die zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit den unseren: Es fehlt an Wohnraum.
Die Baumeister des Roten Wien und des Neuen Frankfurt setzten auf kosteneffizientes Bauen, die Weißenhofsiedlung experimentierte mit Skelettkonstruktionen und Fertigteilen, während heutige Architektinnen und Architekten Vorfertigung in der Fabrik und digitale Bauprozesse proben. Das Ziel: energieeffizient, nachhaltig und rezyklierbar (Cradle-to-Cradle) zugleich zu sein. Die Herausforderung: Boden ist knapp. Nur gute Ideen können uns retten.
Wer in einer Mikrowohnung lebt, muss sich öffnen. Warum nicht die Wohnzelle verlassen und die Stadt als erweitertes Wohnzimmer begreifen? Leben muss nicht immer nur Café heißen, warum nicht Stadtteilnachbarschaften auf der Straße pflegen, die sich langsam von der Dominanz des Autoverkehrs und der reservierten Parkbuchten befreit? Es braucht zudem flexible Gemeinschaftsräume, wie sie vor allem Baugenossenschaften anbieten, wenn sie sozial gerechte und generationenübergreifende Wohnmodelle proben. Hier findet echte Vernetzung statt, nicht nur Likes und Smileys, hier treffen sich Nachbarinnen und Nachbarn, die sonst nur das Paket von der fremden Haustür abholen.
Mehr und mehr Menschen proben freiwillig oder notgedrungen eine Wohngemeinschaft für Erwachsene. Das muss nicht unbedingt Co-Living heißen, eine Variante des Co-Working, bei der frau/man eine Wohnung mit wechselnden Teams auf Zeit teilt. Ein Ziel könnte Gemeinschaft mit persönlichen Rückzugsmöglichkeiten heißen, eine aufgebohrte WG mit offener Wohnküche und schaltbaren Gästezimmern, während das übergroße Sofa schon halb auf dem Balkon parkt.
Oliver Herwig arbeitet als Moderator und Journalist in München. Er unterrichtet Designtheorie an der Kunstuniversität Linz. Sein aktuelles Buch „Home Smart Home. Wie wir wohnen wollen“ kam vor wenigen Wochen im Birkhäuser Verlag heraus.